Humanitäre Interventionen und ihre normative Rechtfertigung
Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinigten Nationen gilt in der Intention universell. Doch wie verhält es sich, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seiner Verpflichtung zur Bewahrung der Menschenrechte nachzukommen? Ist es gerechtfertigt, wenn andere Nationen an seiner Stelle für deren Bewahrung eintreten? Im Folgenden soll eine normative Abwägung militärischer Interventionen gemacht werden und im Anschluss ein persönliches Fazit gezogen werden.
Völkerrecht und moralische Verpflichtung
Die staatszentrierte UN Charta aus dem Jahr 1945 folgt dem Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten (Artikel 2, Absatz 1 der UN Charta). Jedoch gibt es eine Ausnahme, bei der in die Souveränität der Staaten eingegriffen werden darf. Der Artikel 2 Absatz 4 im Völkerrecht gilt als wichtigstes Kriterium für die Rechtmäßigkeit militärischer Interventionen. Er verbietet die Androhung oder Anwendung von Gewalt, die nicht im Einklang der Grundregeln und Ziele der Vereinten Nationen steht. Der Schutz der Menschenrechte ist ein Ziel der Vereinten Nationen und ermöglicht hierdurch Interpretationsspielraum ob interveniert wird oder nicht (Art. 2, Absatz 4 der UN-Charta).
Zwar gilt die Norm des Nicht-Intervenierens (Artikel 2, Absatz 7 der UN Charta), jedoch kam es im Laufe der Zeit zur zunehmenden Gewichtung der Verantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern und für deren Menschenrechtsschutz. Diese Verantwortung im Völkerrecht wird zudem als gemeinsame Verantwortung begriffen. Wenn nötig sind humanitäre Interventionen als Zwangshandlungen gegen einen Staat, um die Personen, die innerhalb seiner Staatsgrenzen leben, vor dem Erleiden schwerer Schäden zu beschützen rechtlich legal, wenn sie durch den Sicherheitsrat genehmigt wurde (Gareth Evans, 2002). Doch selbst ohne Zustimmungen können Interventionen als illegal aber legitim durchgeführt werden, denn die moralische Pflicht zu helfen, liegt bei jedem Land, welches Soldaten und Ressourcen stellen kann. Die Anhänger konstruktivistischer, kosmopolitischer und idealistischer IB-Theorieansätze sehen im Anstieg der humanitären Interventionen eine pfadabhängige, kontinuierliche Stärkung humanitärer Normen (Meyers, 2014, S. 44).
Steigende zwischenstaatliche Interdependenzen machen Terrorismus und Flüchtlingsströme mobil. Daher haben nicht nur allein die betroffenen Staaten ein Interesse daran sie zu lösen, sondern die gesamte Weltgemeinschaft. Ein Beispiel hierfür ist der Islamische Staat. Der Einfluss der terroristischen Miliz gilt als weltweit und erfordert daher eine internationale Bekämpfung (Luther, 2017). Der „Globale Pakt für sichere, geordnete und geregelte Migration“ der UN beispielsweise, stellt ein Regelwerk dar, welches Flucht und Migration besser organisiert, da kein Land die Herausforderungen und Chancen des weltweiten Phänomens Flucht und Migration allein angehen kann, wie es im UN-Migrationspakt heißt.
Zusammenfassend legitimieren das Völkerrecht und die moralische Verpflichtung Menschenrechte zu schützen militärische Interventionen immer dort, wo der Staat nicht in der Lage ist seine Bürger zu beschützen. Steigende Interdependenzen zwischen den Ländern erfordern auch eine neue Art der Zusammenarbeit um globale Probleme gemeinsam in den Griff zu bekommen. Doch was spricht gegen militärische Intervention?
Nationalstaatliche Selbstinteressen unter dem Deckmantel der humanitären Intervention
Realisten sehen Interventionen nicht primär aus humanitären Gründen, sondern aus Erwägungen des nationalen Wirtschafts- oder Sicherheitsinteresses heraus. Sie sehen die Gefahr der selektiven Interventionsentscheidung und den Missbrauch des humanitären Mantels für eigensüchtige Zwecke der Machtpolitik (Meyers, 2014, S. 44), denn laut Realisten müssen nationale Interessen existieren, um das Leben der eigenen Soldaten zu gefährden (Alex J. Bellamy, 2017).
Am Beispiel der Rolle Frankreichs während des Völkermordes in Ruanda, zeigt sich der Missbrauch von humanitären Interventionen für die Verfolgung nationalstaatlicher Selbstinteressen. Frankreich stütze sich zwanzig Jahre auf das Habyarimana-Regime, welcher die Volksgruppe der Hutu begünstigte, zu der er selbst gehörte. Als es zur Eskalation des langjährigen Konflikts zwischen der ruandischen Hutu-Regierung und der Rebellenbewegung der Tutsi (Ruandische Patriotische Front) kam, sendete die französische Regierung sofort militärische Unterstützung und Munition unter dem Deckmantel der humanitären Hilfestellung. Die Rebellen gaben daraufhin auf. Zwei Monate später begannen die Massenmorde an den Tutsi. Die moralische Fragwürdigkeit des Eingriffes Frankreichs zuvor, war nun der Grund dafür, dass niemand mehr eingriff. Die vor Ort stationierten Friedenstruppen der Vereinten Nationen wurden bei Ausbruch der Gewalt nicht gestärkt, sondern verkleinert. Das internationale System war nicht gewillt Truppen und Ressourcen für den Schutz der Ruander zu stellen (Alex J. Bellamy, 2017, S. 519). Gegen Frankreich wurde überdies der Vorwurf erhoben, sich an den Verbrechen beteiligt zu haben, denn „das Land habe Hutu-Milizen bewaffnet und ausgebildet, die Regierung unterstützt und den Tätern, die aus Ruanda flohen, Schutz gewährt“ (Harjes, 2016).
Dieses Beispiel kann auch sehr gut dazu genutzt werden um aufzuzeigen, dass es auch immer ein gewisses Risiko birgt, sich auf eine Seite zu stellen, denn Krieg ist geprägt von Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten.
Ein weiterer Punkt, welcher gegen humanitäre Interventionen spricht ist das Problem, dass Menschenrechte und die Demokratisierung der Welt, wie sie vom Westen proklamiert werden, auch einem westlichen Menschenbild entstammen. Die Frage ist, ob das Verständnis der Moralität des Westens überhaupt in anderen Regionen anwendbar ist. Liberalist John Stuart Mill argumentiert, dass es einer gewissen Zeit und Menge an Erfahrungen bedarf, wonach Moral oder Wahrheit als etabliert betrachtet werden kann (Mill, 2006, S. 91-92). Dies ist ein langwieriger Prozess, welcher die Erfahrungswerte und Ansichten der jeweiligen Gesellschaft enthalten muss, um dann von der jeweiligen Gesellschaft auch anerkannt zu werden. So war beispielsweise der Irak unter Saddam Hussein weitaus stabiler als nach der „US-Demokratisierung“. Eine stabile Autokratie ist besser für ein Land als eine instabile Demokratie (Hegre, 2001, S. 16-33).
Theorie und Praxis
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zwar die rechtliche und humanitäre Lage für Interventionen spricht, dass Praxis und Theorie hier jedoch weit auseinanderklaffen.
In der Realpolitik ist der Entschluss zu intervenieren sehr selektiv und aus staatlichem Eigeninteresse heraus. In den Kosovo sind die UN Blauhelme sofort einmarschiert, beim Genozid in Ruanda wiederum haben sie nur zugeschaut. Unter dem Deckmantel humanitärer Bedenken führte die USA einen illegalen Angriffskrieg gegen den Irak. Zudem gefährden schlecht ausgestattete UN Interventionen das Leben der Soldaten. Berichten zufolge waren die UN Blauhelme, welche nach Srebrenica, einer UN-Schutzzone gesandt wurden, beinahe unbewaffnet. Zudem berichtet ein Soldat der Dutchbat III, dass seine Kameraden und er stellenweise sogar hungerten (Wuthe, 2015).
Meiner Meinung nach gilt, dass wer die humanitäre Hilfe wirklich ernst nimmt, Hilfe für die Zivilgesellschaft in Form von Ärzten und Lebensmitteln, anstelle von noch mehr Kriegsparteien senden sollte.
Literaturverzeichnis
Alex J. Bellamy, N. J. (2017). Humanitarian intervention in world politics. In S. S. John Baylis, The Globalization of World Politics, 7th. ed. (S. 514-528). Oxford: Oxford University Press.
Fall: Radislav Krstic, IT-98-33-T (International Tribunal for the Prosecution of Persons Responsible for Serious Violations of International Humanitarian Law Committed in the Territory of Former Yugoslavia since 1991 02. August 2001).
Fassbender, B. (15. Oktober 2004). Die souveräne Gleichheit der Staaten - ein angefochtenes Grundprinzip des Völkerrechts. Politik und Zeitgeschichte (B 43/2004).
Gareth Evans, M. S. (2002). The Responsibility to Protect. In Foreign Affairs Bd. 81, Ausg. 6 (S. 99-110). New York.
Harjes, C. (30. November 2016). Deutsche Welle . Von Völkermord in Ruanda: Welche Rolle spielte Frankreich?: https://www.dw.com/de/v%C3%B6lkermord-in-ruanda-welche-rolle-spielte-frankreich/a-36592389 abgerufen am 20.12.2018, 12:23
Hegre. (2001). Towards a Democratic Civil Peace? Democracy, Political Change, and Civil War 1816-1992. American Political Science Review 95, S. 16-33.
Luther, C. (5. Januar 2017). Wer kämpft in Syrien? Von Kampf gegen den IS: https://www.zeit.de/politik/ausland/2015-11/syrien-kriegsparteien abgerufen am 28.12.2018, 21:34
Meyers, R. (2014). Interventionen als Instrument der internationalen Politik: Entwicklung, Anspruch und Wirklichkeit. In C. L. Bernhard Rinke, Interventionen Revisited: Friedensethik und Humanitäre Interventionen (S. 21-82). Wiesbaden: Springer VS.
Mill, J. S. (2006). On Liberty and The Subjection of Women. London: Penguin Classics.
SPD. Fakten zum UN- Migrationspakt. Von https://www.spd.de/aktuelles/migrationspakt/migrationspakt/ abgerufen am 04.01.2019, 10:43
Wuthe, B. (Regisseur). (2015). Srebrenica - Wunden, die niemals verheilen [Dokumentarfilm].
Bildquelle
https://www.fr.de/bilder/2018/06/18/10983758/1647523871-1107216-3Ia7.jpg