Hinter den Alpen
Der dritte Monat in "La Serenissima", der ehrwürdigen Lagunenstadt. Das Leben hier ist eine Oper, oft ein Drama. Immer vor einer bezaubernden Kulisse.
Es ist Herbst - nein, es ist der erste Advent! Das mag man gar nicht glauben wenn man im prallen Sonnenschein auf den Pollern der Zattere sitzt, der Sonnenpromenade Venedigs. Oder wenn man auf dem Weg zur Arbeit durch den Park spaziert und der Gingkobaum noch gelbe Herbsttracht trägt.
Die Emotionen hier sind so viel intensiver, unvermittelter. Ich habe wohl noch nie so viel gelacht und geweint. Ich streiche mit anderen Freiwilligen durch die Gassen Venedigs, entdecke ein Lieblingscafé, trinke eine vorzügliche heiße Schokolade mit Blick auf schaukelnde Gondeln und bin glücklich. Zeichnen sich nachtblau die Alpen im Norden ab, packt mich eine große Traurigkeit und Sehnsucht, ein bisher ungekanntes Gefühl. Dann denke ich an meine Familie, an die Welt, die sich weiterdreht, an Verlorensein. Manchmal kann ich es kaum mehr aushalten, manchmal genieße ich es. Es ist dieses Zerissensein - der Traum von der Ferne hat sich erfüllt, doch auch hinter den Alpen ist nie etwas perfekt. Diese dunklen Gefühle sind für mich ein Teil von diesen "Lehr- und Wanderjahren", denn nur wer auszieht, kann auch wiederkommen.
Arbeit
Inzwischen habe ich verstanden, was denn nun eigentlich meine Aufgabe hier ist. Dieses Verstehen hat mich an meine Grenzen gebracht, einige Notfallanrufe und Tränen gekostet.
Die Jugendlichen, die eine meiner Arbeitsstellen besuchen, fühlen wahrscheinlich so wie ich eine Sehnsucht nach einem Zuhause. Mit dem Unterschied, dass ihres nicht hinter den Alpen liegt, sondern nicht existiert. Wenn wir abends um zehn die Räume schließen, wollen sie nicht gehen. Für sie sind diese gemeinsamen Stunden im Jugendzentrum sehr wertvoll und es ist nicht so wichtig, was sie erreichen, sondern dass sie Zeit mit anderen Leuten verbringen. Sie sind Außenseiter, Raufbolde und teilweise auch Drogenabhängige. Wir hatten auch schon eine Schlägerei in unseren Räumen.
Ich habe nun verstanden, dass es falsch ist sich in Organisation zu stürzen, wichtiger ist es, ihnen zu zu hören, sie zu integrieren. Ich gebe zu, dass mir das sehr schwer fällt. Viele von ihnen sind genauso alt oder älter als ich. Auch sprechen sie nicht Italienisch, dass ich nun einigermaßen beherrsche, sondern Venezianisch.
Doch auch entgegen aller Schwierigkeiten fühle ich mich doch schon nützlicher. Sei es, mit Deutschhausaufgaben zu helfen, ein wenig Musik zusammen zu machen. Oft rede ich auch mit meinen fantastischen Mitarbeitern, alle junge Psychologen.
Diesen Monat habe ich den gesamten Beschwerdekatalog ausprobiert: mehrmals bei meiner Mentorin, bei meinem Tutor, bei allen Mitarbeitern, bei meiner Entsendeorganisation. Ich wollte einfach konkretere Sachen zu tun bekommen, effektivere. Viele Wutausbrüche und Fluche später saß ich schließlich in der "Villa", unserer anderen Arbeitsstelle, mit meinem Chef. Ich habe nun mehrere Bücher über Gruppendynamik, Gesellschaft (natürlich auf Italienisch) bekommen, um das Projekt besser zu verstehen. Ich darf nun ein wenig hinter die Kulissen blicken, die Prinzipien ergründen. Ich wissbegierige Person war darüber sehr froh!
Ich empfehle allen Freiwilligen sich nicht davor zu scheuen anzuecken. All meine Anschuldigungen erwiesen sich bisher als falsch. Wer vorhat, ins Ausland zu gehen und nun vielleicht gerade Lust darauf bekommt, sollte sich stets bewusst werden, dass Sprache ein großes Hindernis sein kann. Ich habe nun in drei Monaten fließend Italienisch sprechen gelernt, mit der Motivation endlich richtige Gespräche mit den Jugendlichen und vor allem mit meinen Mitarbeitern zu führen! Mit Englisch kommt man in Italien nämlich nicht so weit.
Italien ist ein Land, dass mich absolut herausfordert. Das Kulturerbe und der Lebensstil sind beeindruckend. Ich habe nach drei Monaten in Venedig immer noch nicht das Gefühl alles gesehen zu haben! Auch die Herzlichkeit und Energie der Menschen ist wunderbar. Es sind andere Dinge, die mich zur Weißglut treiben - wie oft Dinge nicht klappen, Termine verschoben werden, Versprechen nicht erfüllt sind! Wenn sich die Wut gelegt hat, folgt immer die Freude darüber, eine andere Kultur erleben zu können.
Mit dem Universitätschor und durch die Freundlichkeit der Italiener fühle ich mich aber hier selten einsam! Am Freitag war ich mit einer italienischen Freundin auf einem Konzert, oft kommt auch Besuch von Freunden aus vier Ländern, von anderen Freiwilligen. Dann wird unsere WG zu einer kleinen "Auberge Espagnole", wenn wir Abende verkochen und verquatschen.
Es ist auf keinen Fall leicht hier, jeder Tag ist ein einziger Kraftakt. Ein Gefühlsspektakel, das aus der Ferne wohl besser klingt als es sich oft anfühlt.
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