Head over Heels
4 Tage, 8 europäische Freiwillige aus 6 Nationen, 73 Kurzfilme und gefühlte tausend Emotionen
Got my head in the sky and a heart like a hurricane
Get dressed to the nines and flip out like a boomerang
I got love for the world and I'm making time
I turn the radio up till I'm feeling fine
I'm all head over heels and I reel when I come alive
Wooh
Wooh
Diese Zeilen aus Head over Heels von JD McPherson und der lebensfrohe Trailer mit gutgelaunten Seniorinnen, die sich in ihrem Haus schick machen, in ihren rollstuhlähnlichen Fahrzeugen treffen und gemeinsam durch die Straßen und ans Meer „tanzen“, lassen uns mehr als einmal in den Theatersälen des Quartz in Brest in die Welt der courts-métrages – Kurzfilme - abtauchen.
Vier Tage verbrachten wir, alle sieben Freiwilligen in Redon, ein weiterer europäischer Freiwilliger, 3 bénévoles und Fabien vom Ciné Manviel sowie Lydia, unsere Tutorin der Mapar, in einer Stadt weit im Westen der Bretagne, genauer gesagt in Brest. Dort fand die 30. Edition des Festival Européen du Film Court de Brest (europäischen Kurzfilmfestivals) statt - und wir waren mittendrin dabei.
Donnerstagmorgen gegen 8 Uhr stehen wir zu sechst am Bahnhof und warten auf Sera, die im vorigen Trubel des Aufbruchs und nach dem entsetzten Aufschrei Tiinas eine Minute vor geplantem Abmarsch „Oh Merde!! Wir haben gestern Abend die Wäsche in der Waschmaschine vergessen!“ einen Teil der Zugtickets zu Hause vergessen hatte. Da wir aber mit Bedacht auf die kürzeren Beine der anderen (jaa, ich bin gerade wieder die größte wennauch zweitjüngste innerhalb der Gruppe) ohnehin viel zu viel Zeit eingeplant hatten, war auch das kein Problem und wir fanden uns kurz darauf im TGV nach Rennes wieder. Von dort aus ging es dann mit Lysianne, Marie und Françoise – den drei Ehrenamtlichen des Kinos sowie Lydia weiter nach Brest, wo uns nach insgesamt dreistündiger Fahrt Maciek mit einem süßen Empfangsschild „SVE REDON“ erwartete. Ab zum Quartz, dem Theater, das uns für die nächsten Tage als Arbeits-, Entspannungs- und Austauschort beherbergen würde. Dort ließen wir allerdings nur vorübergehend unser Gepäck an der Garderobe und weiter gings zu einer Pizzeria in der nach Stefanias kritischem Blick relativ italienisch, aber gut gegessen wurde.
Und wenig später begann auch schon die erste unserer zahlreichen Vorstellungen. Der Trailer, der mir schon bald sehr vertraut erschien, wirkte jedoch trotzdem jedes Mal anderes. Er war ein guter Spiegel für das Publikum im Saal, das merkte ich so richtig, als freitags Schulklassen da waren oder als der Saal Freitagabend das erste Mal wirklich voll war – mal wurde geklatscht, wobei mich die manchmal dominanten Betonungen auf 1 & 3 regelmäßig leicht wahnsinnig machten, mal wurden die Gespräche einfach fortgesetzt, mal herrschte eine positiv gespannte Stimmung unter allen Zuschauern.
Neben der Compétition Européenne, die in sieben Programmen insgesamt 33 Kurzfilme zwischen 5 und 30 Minuten aus 25 Ländern vorstellte und von einer Jury die besten Filme wählen ließ, standen auf unserem Plan die verschiedensten Namen.
„Panorama Animation“ entführte uns als allererste und einzige Vorführung dieses Genres in die Welt der Animationsfilme; Filme für Kinder, vor allem aber Filme für Jugendliche und für Erwachsene, von Knetmodelage über Zeichnungen und Stopmotion-Fotografie zu reinen Computeranimationen waren viele interessante Stile vertreten.
Die „Competition Française“ sowie „Made in Breizh“ (=Bretagne) zeigten ausschließlich französische bzw. regionale Filme, während sich „Music for life“ und ein „ciné concert : Monstres à Gogo“ auf bestimmte Themen konzentrierte.
Mit der Preisvergabe und der Vorstellung „Bataille de Brestoâ“ standen wieder ganz andere Abende auf unserem Programm. Dort gab es nun auch Moderatoren, die sowohl technische Pannen als auch den Wettstreit zweier Festivalorganisatoren, die in drei Kategorien jeweils einen Film ausgewählt hatten und dem Publikum nicht nur präsentierten sondern auch die Wertung überließen, gut meisterten und gestalteten.
Alles in allem sah ich 73 Filme. Filme, die uns zum Lachen brachten; Szenen, die uns schockierten; Bilder, die ans Herz gingen; Geschichten, die berührten, zum Nachdenken anregten. Es waren beinahe alle Genres vertreten, neben den Animationsfilmen gab es dokumentarische Kurzfilme, Komödien, Dramen – humorvolle Dramen, ernste Dramen, musikalische Dramen und Filme, die wir schwer in eine Kategorie einordnen konnten.
Auch wenn ich von einigen Filmen nach vielversprechenden Beschreibungen enttäuscht war, überwog insgesamt doch die Motivation. Ich habe zwar früher nie zu den „cinéphilen“ Menschen gehört, aber nicht nur das bénévolat hier im Kino und die damit verbundene Möglichkeit, alle Filme gratis zu sehen, sondern auch der Großteil der Kurzfilme jetzt in Brest hat mich wirklich begeistert und viel Spaß gemacht. Bei dem einen Film fand ich die Geschichte nicht besonders interessant, dafür verzauberten mich die wunderschönen Bilder; bei einem anderen Film konnte ich der Grafik nichts abgewinnen, umso mehr dafür der Botschaft, die hinter dem Gezeigten steht; wieder andere Filme gefielen mir insgesamt sehr gut – mussten allerdings aus unserer gemeinsamen Liste ohne größere Diskussion gestrichen werden, weil sie zu lang, zu brutal, zu kompliziert oder zu „veruntertitel“ waren, um einem möglichst breiten Publikum gezeigt zu werden.
Damit wäre ich auch schon bei unserer eigentlichen Arbeit, - denn so sehr ich es mochte, mich den Filmen, Gefühlen und Eindrücken hinzugeben, war es kein reines Freizeitvergnügen. In jeder der Vorstellungen saßen wir alle bewaffnet mit unserer Tabelle, Stift und Handylicht, um in den kurzen Pausen zwischen den Filmen in (eher) mehr oder weniger großer Detailliertheit unsere Eindrücke, Stimmungen, Länge, Sprache und angesprochenes Publikum zu notieren.
Da kam ich mir am Ende schon etwas „professionell“ vor: Karte zeigen (und davon hatten wir ohnehin ganz schön viele, haben uns aber außerdem aus Interesse für zusätzliche „Séances“ mit noch mehr Karten eingedeckt) , Platz suchen, hinsetzen, Notizen rausholen, Filmtitel notieren, Stift festhalten und auf die Leinwand schauen, schreiben, schauen,
schreiben, schauen, schreiben, flüstern, schreiben, schauen, schreiben, schauen, schreiben,
aufstehen, reden, den Saal verlassen und alle an einem Punkt treffen.
Das war dann der Ausgangspunkt für unser briefing nach jeder der Vorstellungen. Im gemütlichen Bereich des Salon du thé, genannt Méridienne, boten uns Stühle, Sessel, Teppiche, Kissen und Decken einen äußerst gemütlichen Rahmen für unsere Diskussionen über die gesehen Kurzfilme. Dieser Ort wurde auch schnell zu einem meiner Lieblingsplätze des Quartz. Es galt, jeden der Filme anzusprechen, zu entscheiden ob er prinzipiell für uns – das heißt das möglichst breite, anzusprechende Publikum für unseren Kurzfilmabend im März - interessant ist und dann über die Feinheiten zu diskutieren. Was am Anfang noch ziemlich unter Anleitung von Fabien stattfand, meisterten wir am Ende des Wochenendes trotz Müdigkeit und teils unterschiedlicher gesehener Filme auch ganz alleine und ich fand immer mehr Gefallen an Austausch und Diskussion in Bezug auf die verschiedenen Aspekte.
Nicht ganz unerwähnt lassen möchte ich die Ereignisse in Paris. Wir saßen gerade in unserem letzten Meeting des Tages, um den letzten der gesehenen Filme zu diskutieren, als „uns“ der Anruf von Françoise erreichte. Nachdem wir erfuhren, was seit dem Beginn unserer letzten Séance um 21.30 h passiert war, zogen wir unsere Handys, um möglichst schnell, genauere Infos zu bekommen, zu erfahren, was mit den anderen SVE in Paris ist, die wir vom Seminar kannten. Doch zum Glück waren alle okay, auch die beiden, die im Stadion waren erreichten viel später zum Glück wohlauf ihre Wohnung.
Während sich unsere Gruppe kommentarlos trennte, unterhielten wir uns noch kurz im Theater, ehe Stefania, Sarah und ich mit mulmigem, entsetztem, fragendem Gefühl den Weg zu unserem Hotel antraten. Besonders die Gesellschaft von Sarah, mit der ich ein Zimmer teilte, tat mir an diesem Abend gut. Nicht nur die Tatsache, dass man sich auf Deutsch doch treffender unterhalten austauschen kann, war da hilfreich, sondern auch, dass sie allgemein gut informiert ist, meine Zusammenhangslücken schließen konnte; tiefere Gespräche und reflektierte Gedanken möglich waren.
Der Fernseh lief bis 2 Uhr, mit immer neuen Meldungen, merkwürdigen Experten und für uns kaum verständlichen Zeugenaussagen, eine deutsche App lieferte uns auch teils missverständliche Aussagen - bis wir es schließlich nicht mehr hören konnten. Und zwischen all dem blieb das Unverständnis, Entsetzen, Mitgefühl, und ein Schwanken zwischen düsteren Aussichten und Hoffnung für Europa, die Welt; zwischen Sprachlosigkeit und dem Bedürfnis, seine Gedanken loszuwerden.
Auch am nächsten Morgen beim Frühstück war die Stimmung etwas bedrückt, doch insgesamt wurde unser Wochenende und das Festival nicht großartig von den grausamen Geschenissen beeinflusst. Das Gefühl morgens auf dem Weg zum Festival, etwas müsse doch verändert sein, konnten wir zwar schon rein logisch damit beantworten, dass die Straßen in Brest sich ja nicht verändert hatten, aber da war es trotzdem. Außer Rucksackkontrollen und patrouillierenden Polizisten, auf der Heimfahrt in Rennes dann auch Militär, gab es für uns aber keine greifbare Veränderung. So grausam und traurig die Attentate in Paris waren, finde ich es doch gut, dass nicht alles danach still stand. Und auch wir genossen unsere letzten beiden Tage im großen Ganzen relativ unbeschwert, abgesehen von den Schlagzeilen, kürzeren Gesprächen und unabhängig davon der vor allem am Sonntag hinzukommenden Müdigkeit.
Nochmal zurück zum Thema Frühstück - da muss ich mich eindeutig noch dran gewöhnen. Dass das Frühstück in Frankreich prinzipiell nur süß ist und so etwas wie Käse auf keinen Fall in Frage kommt, weiß ich mittlerweile. Als ich allerdings sehr unbedacht in mein Croissant biss, wunderte ich mich doch erstmal sehr. Die Bretagne ist eben "100% beurre salé", gesalzene Butter gehört nicht gerade auf Brioche oder Croissant. Fürs nächste Mal bin ich jetzt definitv vorgewarnt.
Was bisher nicht erwähnt wurde - natürlich entdeckten wir auch Brest, wo wir schonmal da waren. In Maciek hatten wir da einen schon recht kompetenten Stadtführer, der uns nicht nur mit in sein Lieblingspub nahm, sondern auch Veganer ist und uns in allen unseren Sprachen etwas sagen konnte.
Lange Rede, kurz zusammengefasster Sinn - Die 4 Tage in Brest waren sehr schön - emotionsreich - anstrengend - voll Lachen und doch etwas betrübt - lehrreich - kontaktreich - sozial - international in mehrfachem Sinn - und absolut jede vermisste Stunde Schlaf und jede gesessene, nur scheinbar unbewegte Stunde in Zug, Theater und Méridienne wert!
Weitere Eindrücke von Brest und vielen anderen Momenten, die wir hier gemeinsam in Redon teilen dürfen, findet ihr auf der Seite der superlieben anderen deutschen Freiwilligen CitoyenneDuMonde!
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