Harissa in Rheinhessen
"Wenn man auf dieser Welt Glück hat, dann nur, wenn Andere grad nicht aufgepasst haben." Zwei Menschen in einer deutschen Stadt, zwei Leben, so unterschiedlich und doch gleich.
Wenn man auf dieser Welt Glück hat, dann nur, wenn Andere grad nicht aufgepasst haben.
Jamal, 43 Jahre alt, ist Friseur in einer deutschen Stadt. Herrenfriseur, wie er immer betont und dabei etwas ruppig die Haare seines Kunden mit einem kleinen Handtuch abtrocknet. Es wird einem nichts geschenkt auf dieser Welt, weder in Nador, seiner Heimatstadt in Marokko, noch im graukalten Wiesbaden. "Coiffeur Chador" steht in blauen Druckbuchstaben über seinem Geschäft, das eine "F" ist etwas abgeblättert, es wurde nicht erneuert. Jamal hat viele Kunden, meist Türken und Araber, aber auch der eine oder andere Deutsche wagt sich in das Geschäft.
Macht man einen Termin bei Jamal aus, so kommt man grundsätzlich zu spät. Es sitzt bereits ein anderer Kunde am reservierten Platz. Das macht Jamal nicht aus Bosheit, er hat nur vergessen, in seinem Kalender zu schauen. Dann sieht er einen entschuldigend an, verweist auf die vergriffenen Bild-, Focus- und Playboy-Ausgaben und sagt: "Zwanzig Menuten, okay?" Man setzt sich, im Hintergrund dudeln Hits aus den 80er Jahren, das mag Jamal.
Warum man immer wieder kommt? Jamal redet nicht viel, haartechnische Fragen und Wetterhinweise sind das Einzige, was man zwischen dem Schnipp, schnipp und dem RRRR des Rasierers zu hören bekommt. Zwischendurch hält Jamal inne, er guckt neugierig nach draußen, wo ein Lastwagenfahrer nicht glauben will, dass die Parklücke zu klein für ihn ist. Schließlich fährt er motoraufheulend davon. Jamal schnippelt weiter, wechselt den Rasierer.
Er arbeitet viel, das war schon immer so, und doch ist es immer zu wenig.
Zuhause in Nador meint man, er lebe zwischen Geflügelbrust und Kaviar. Das Bild will er nicht zerstören, solange der Cousin neidisch bleibt und die Mutter glücklich. Arbeiten tut er von Montags bis Samstag, schließen tut er gegen 20 Uhr. Auf dem Schild steht 19 Uhr 30.
Emanzipierte Menschen würden sagen, dass er zuhause autoritär und konservativ ist. Andere, dass er ein Kind seiner Zeit ist. Neben rheinischen Pseudofrohnaturen und bitteren Bier will er sein Marokko auch im Wiesbadener Wohnzimmer behalten. Dass er mit den Jahren dabei langweilig, stur und auch ein wenig eingebildet geworden ist, merkt er nicht. Die erschreckende Ähnlichkeit mit dem hessischen Kleinbürger will er nicht zugeben, und doch ist seine Sehnsucht nach der guten alten Zeit im Wiederaufbau-Deutschland die gleiche wie beim Kiosk-König nebenan.
In seinem Friseursalon hängt neben seinem marokkanischen Gesellenschein die Anerkennung der hessischen Handwerkskammer. Zwei Welten, eine Arbeit und viel Unverständnis dazwischen.
Ob Jamal noch zurück will? Zurück nach Nador? Eher nicht. Die Gründe dafür sind vielfältig, meistens haben sie jedoch mit Gefühlen und Gewohnheit zu tun. Ist es nicht schön, aus Deutschland mit Wurst und Bier in die Heimatstadt zurückzufahren, bestaunt zu werden, und wenn der Alltag im sinnlosen Marokko Einzug hält, wieder in das graue Deutschland zurück zufahren ?
Er weiß es nicht. Deshalb bleibt erstmal alles so wie es ist.
Auf der anderen Rheinseite dreht Hamid das Fladenbrot im Ofen herum, das Dönerrestaurant ist gut besucht, das heißt, die beiden einzigen Tische sind besetzt und drei Leute warten hungrig auf Falafel, Pizza und Kebab. Es geht gegen halb eins zu, die DVD mit arabischen Fußballspielen muss ausgewechselt werden. Gleichzeitig will ein junges Mädchen endlich bezahlen, der Dönerspieß ist fast zu Ende und auf die Toilette wollte er vor einer halben Stunde auch schon. Er seufzt, schiebt die fettigen Hemdsärmel wieder zurück und lächelt. Als ein Australier ihn auf Englisch fragt, ob er auch scharfe Soße habe, blickt er grinsend zurück, sagt "Yes", drückt ihm die Mayo-Soße ihn die Hand und wendet sich wieder der Pizza zu.
Zusammen mit seinem Bruder und dessen Freund hat er vor eineinhalb Jahren den Laden erstanden, welcher am lauten Münsterplatz, eingeklemmt zwischen einer blinkenden Videothek und einem Getränkeshop, nach Kunden schreit. Eigentlich kann man auch draußen sitzen, doch jetzt ist es kalt, der Schnee bildet dreckige Pfützen auf den weißen Fliesen und es riecht nach Fett, Hautcreme und Mottenkugeln. Während draußen die Schneeflocken wie kleine Gleitschirmflieger von den Dächern segeln, kommen mehr und mehr Leute in die Dönerbude. Hungrige Augen richten sich auf die Speisekarte und auf den Fernseher, welcher heute lediglich für die Fans von MC Oran interessant ist. Also nur für Hamid.
Dumm, dass er heute alleine arbeiten muss, gerade jetzt zur Fastnachtszeit essen die Leute lieber schnell einen Döner als umständlich nach Hause zu fahren. Man will ja nichts verpassen. Ein betrunkener Mann in einem Bienenkostüm bestellt "N Döna!", geht jedoch wieder hinaus. Wahrscheinlich wollten seine Kumpel nicht in der Kälte warten. Hamid legt den Döner zur Seite, neben den zischenden Herd, er wird ihn auf dem Heimweg essen.
Um 2 Uhr 55 schließt er den Laden, die Straßenbahn fährt nicht mehr, also wird er gehen. 25 Minuten, das ist ok, nicht allzu lang. Ein Auto hupt erschreckend nah, Hamid reißt die Augen auf, springt zur Seite, er hat nicht auf die Ampel geachtet. Kein Wunder, wenn er so müde ist. Seit drei Wochen steht er von 9 Uhr bis 3 Uhr im Laden, schläft nur richtig am Sonntag und ist froh, wenn er wieder genug Geld zusammen hat, dass er die nächste Rate für den Laden zahlen kann. Für die Bewilligung bei der Bank hat er seinen deutschen Schwiegervater mitgenommen. Das überzeugte.
Als er nun in dieser Nacht heimwärts wankt, geht er über die Rheinbrücke. Es zieht, der Wind fegt kräftig von der Seite, Regentropfen fallen ins Auge. Er zieht die Schultern ein, Radfahrer fahren dynamosummend an ihm vorbei. Die Kirchturmuhr schlägt dumpf, und als Hamid am Friseurgeschäft Jamals vorübergeht, löscht dieser gerade das Licht im 1. Stockwerk.
Zwei Menschen, vier hungrige Mäuler.
Und diese verdammte Ungerechtigkeit.
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