Həmişə toyda! Oder: Die Hochzeitsobsession.
Ich bin mir unsicher, ob ich diesen Eintrag mit einer *Trigger Warnung* veröffentlichen sollte. Entscheidet selbst.
Aserbaidschanische Musik dröhnt aus den Boxen und verhindert jeden Versuch einer Konversation. Falls doch, biete ich mein linkes Ohr zum Reinschreien an, da mein rechtes Ohr, dass näher an der Box ist, bereits nur noch dumpfe Geräusch durchlässt. Ich frage mich, ob ich vielleicht einen Hörschaden von dieser lautstarken Musik davon tragen werde. Und wie ich hierher gekommen bin...
Alles begann mit meinem harmlosen (so dachte ich jedenfalls) Wunsch, eine aserbaidschanische Hochzeit zu erleben. Hochzeiten haben eine besondere Bedeutung in Aserbaidschan und werden fast obsessiv begangen. Nachdem wir nun den schiitischen Trauermonat hinter uns gebracht hatten, können wieder Hochzeiten gefeiert werden. So zumindestens verkündeten mir meine Arbeitskolleg_innen und Freund_innen das Ende des Trauermonats. Die nächsten zehn oder elf Monate wäre das Leben nun wieder schön, weil Hochzeiten stattfinden könnten. Ich war neugierg und wollte um keinen Preis der Welt dieses kulturelle Hochereignis verpassen. Und so hatte ich diesen Wunsch ganz unbedarft gegenüber meinem Mentor geäußert. Und schon eine Woche später rief er mich an und erzählte, dass an einem Mittwochnachmittag Verwandte seines Vaters heiraten würden. Und ob ich nicht Lust hätte, mitzukommen. Durch die Sonderstellung von Hochzeiten in Aserbaidschan musste ich mir auch keine Sorgen machen, dass ich meine Arbeitszeit gegen eine Hochzeit eintauschen würde. Also sagte ich sofort zu. Es war abgemacht, mein Co-Freiwilliger und ich würden zur Hochzeit, die nicht in Ganja stattfand, gehen und anschließend bei der Familie unseres Mentors übernachten.
Am Abend vorher erhielt ich dann einen freudigen Anfruf meines Mentors: Er hätte eine tolle Neuigkeit für mich. Bereits am Morgen sollte ich zu ihm nach Hause fahren (während er mit meinem Co-Freiwilligen in Ganja bliebe und mit dem öffentlichen Nahverkehr nachkommen würde). Dort würde mich seine Mutter und zwei seiner Tanten empfangen und mich mit zu ihrem Friseurbesuch vor der Hochzeit mitnehmen. Etwas aufgeregt setzte ich mich früh in den Bus, der mich aus Ganja raus mitten ins Nirgendwo bringen sollte. Da ich vorher noch nie bei meinem Mentor zu Hause gewesen war, erklärte dieser noch dem Busfahrer, in welchem Dorf und in welcher Straße er mich absetzen sollte und weg war er. Ich hingegen saß gebannt im Bus und schaute aus dem Fenster in die trostlose Winterlandschaft. Grau- und Brauntöne wechselten sich ab, unterbrochen lediglich durch ein paar vereinzelte Häuseransammlungen.
Nach 45 Minuten erreichte ich das Dorf meines Mentors und wurde gleich mit Küsschen von seiner Tante empfangen. Natürlich wurde mir gleich Essen und Tee angeboten. Letzteres nahm ich dankbar an, da es doch mittlerweile ziemlich kalt geworden ist. Und dann saß ich bei Tee und betrachtete das geschäftige Treiben um mich rum. Ich kam nicht umher, zu glauben, dass ich eins der am besten geschützten Geheimnisse Aserbaidschans entdeckt hatte. Ständig sehe ich nur Männer, gekleidet in Jeans und schwarzen Jacken, auf der Straße. Ab und an huscht eine Frau vorbei - auf dem Weg zum Bazaar oder zu den Nachbarn. Die Männer hingegen dominieren das Straßenbild und wirken wie eine große Masse aus Jeans und schwarzen Jacken. Und nun saß ich in der Küche eines Familienhauses und sah viele Frauen, die zusammen Tee tranken, sich über ihre Nachbarn unterhielten und diskutierten, welches Outfit für die Hochzeit angemessen wäre. Meine Aufgabe dabei stellte sich schnell als Modeberaterin heraus. Eine Aufgabe, die ich dankbar annahm, da ich sie mit wenigen aserbaidschanischen Worten bewerkstelligen konnte. Währenddessen trank ich weiter Tee und fragte mich, wann wir wohl zum Friseur gehen würden. Ich hatte zwar schon mein einziges schickes Kleid, das ich mit nach Aserbaidschan gebracht habe, an, aber meine Haare waren einfach nur Kraut und Rüben. Kurz gekämmt am Morgen. Warum auch Arbeit investieren, wenn ich doch zum Friseur gehen sollte.
Nach etwa vier Tassen Tee kam das Taxi und wir machten es uns bequem. Schließlich sollte die Fahrt nochmal etwa 45 Minuten dauern. Als mein Blick auf die Uhr fiel, stellte ich fest, dass wir wohl keine Zeit mehr hätten, zum Friseur zu gehen. Der Taxifahrer war einfach zu spät dran gewesen. Am liebsten hätte ich mich im Kofferraum versteckt oder laut ausgerufen, dass ich so nicht zu einer Hochzeit gehen könne. Nicht mit diesen Haaren. Aber mir blieb nichts anderes übrig, als meinen Kopf hochzuhalten und so zu tun, als wäre das eine normale Friseur für eine Hochzeit.
Zehn Minuten vor Beginn der Hochzeit kamen wir beim Festsaal an. Auf der Straße davor, wie hätte es auch anders sein sollen, standen Männergruppen, natürlich in schwarzen Jacken gekleidet, und unterhielten sich. Ich wurde schnell von der Tante an den Gruppen vorbei und ins Gebäude hinein gezogen. Und dort waren sie wieder: die Frauen. Wartend vor den noch geschlossenen Türen und sich mit Küsschen begrüßend. Und ich fragte mich, warum ich immer in Länder ziehe, in denen Menschen sich zur Begrüßung küssen. Ich wurde allen vorgestellt und bekam hunderte Küsse auf meine Wangen. Lippenstift sammelte sich dort an und ich lächelte. Obwohl es für mich bis heute immer noch unangenehm ist, wenn mich viele fremde Menschen küssen, lerne ich doch immer mehr, damit umzugehen. Mein Körper verkrampft nicht mehr komplett. Nur die Schulter bleiben weiterhin steif. Mein Empfinden von Privatsphäre wird wohl ewig strenger ausgelegt sein als in vielen anderen Kulturen.
Meine Gedanken wurden jäh durch das Weiterziehen meinerseits durch die Tante unterbrochen. Durch die geschlossenen, gläsernen Türen sahen wir, dass sich die Kellner näherten und sich bereit machten, die Türen zu öffnen. Und nun passierte etwas, dass ich nur aus dem Fernsehen kannte. Die Türen öffneten sich und Frauen in Absatzschuhen rannten los. So, wie es in den Nachrichten immer gezeigt wird, wenn irgendein Designer oder irgendeine Designerin mit H&M zusammen eine Kollektion rausbringt und an dem Tag, an dem die Kollektion erscheint, H&M mit verrückten Menschen überflutet wird. So, als würde es etwas ganz Grandioses kostenlos geben. Ich war völlig überwältigt, musste mich aber zusammen reißen, da die Tante mich am Arm hinter sich her zog. Ich stieß gegen ältere Damen und kleine Kinder und hatte nicht mal Zeit, mich zu entschuldigen. (Was nicht schlimm ist, weil sich hier immer alle umrennen. Das gehört auch im öffentlichen Nahverkehr zur Norm.) Nach einem kurzen Sprint in meinen High Heels, die Freunde als Sitzschuhe bezeichnen, konnten die Tante und ich einen hervorragenden Platz sichern. Ihrer Meinung nach. Mir war es irgendwie egal. Und da der erste Gang des Essens bereits auf dem Tisch stand, wurde sofort mit Essen angefangen.
Etwas befremdlich für mich, weil das Brautpaar noch nicht anwesend war. Aber da sich in Aserbaidschan immer alles ums Essen dreht, entschied ich mich, einfach mit zu machen. Eine Wahl hatte ich eigentlich auch nicht, da immer eine der Tanten meines Mentors (und an meinem Tisch waren das einige) mir Essen auf meinen Teller schaufelte. Natürlich nur Fleisch, das ist das Nonplusultra. Mein Griff zum Gemüseteller wurde etwas beäugt, aber akkzeptiert, nachdem ich auch etwas vom Fleisch gegessen hatte. Die Essensteller auf dem Tisch wurden mit weiteren Tellern voller Essen bedeckt, so dass sich in kürzester Zeit eine Essenpyramide gebildet hatte. Der Gemüseteller stand bis unten und ich musste mein komplettes Jengakönnen abrufen, damit ich weiterhin auch etwas Gemüse zwischen den Fleischgängen zu mir nehmen konnte. Mit für sie angenehmer und für mich nervöser Verspätung, tauchten dann auch endlich mein Mentor und mein Co-Freiwilliger auf. Ich hatte sie vorher schon angefleht, sich mit uns an den Tisch zu setzen - eine Selbstverständlichkeit, sollte mensch meinen. Ist es in Aserbaidschan aber nicht. Bei einer Hochzeit, zu der mindestens 500 Gäste geladen sind, gibt es zwei Sitzmöglichkeiten für einen Mann. Er kann sich entscheiden, bei den Frauen und Kindern und damit bei der Familie zu sitzen oder die gegenüberliegende Seite anzusteuern. Denn da befinden sich die Männertische. Und dort wird der Wodka serviert. Ein Mann, der sich zu seiner Familie setzt, wird keinen Alkohol trinken oder rauchen. In direkter Gegenwart von Frauen wird bei Hochzeiten nicht getrunken oder geraucht. Dafür sind ja schließlich die Männertische da. Dort fließt der Wodka in Strömen und schon eine halbe Stunde nach Beginn der Hochzeit hing über dieser Seite eine große Rauchwolke. Am Familientisch wird hingegen die ganze Zeit gegessen. Als müsste mensch ein Laster mit einem anderen kompensieren. Meine zwei männlichen Begleiter entschieden sich gegen Wodka und für die Familie, was mich freute. (Mh, dieser Satz aus meinem Munde... wer hätte das gedacht.) Und sie kamen genau rechtzeitig zum Auftritt von Braut und Bräutigam.
Das Licht wird gedimmt, die Vorhänge zugezogen und Spot on für das neue Ehepaar. Das Paar schreitet den langen Gang zwischen den Familien- und Männertischen entlang. Und dabei schießt funkelnder Goldregen aus Feuerwerkskörpern. Am Ende des Gangs ist das Hochzeitskleid der Braut, was einem Prinzessinnentraum aus Tüll und Glitzer entsprungen ist, noch heil. Alles ist gut gegangen. Und der Schleier der Braut wird gelüftet. Darunter verbirgt sich ein bis zur Unkenntlichkeit geschminktes Gesicht. Es erinnert an eine Geisha. Weiß geschminkt, Augen stark umrahmt und roter Lippenstift. Kulturelle Schönheitsideale auf ihrem Höhepunkt. Während das Licht wieder angeschaltet und die Musik auf ihre ohrenbetäubende Lautstärke aufgedreht wird, denke ich an das, was vorher passiert war. Von Hochzeitsvideos, die ich vorher bereits bei anderen neuverheirateten Paaren, bei denen ich zum Essen eingeladen war, gesehen bekommen habe, stelle ich mir vor, wie die Braut zeitig aufgestanden ist, um ihr Gesicht mit Schichten von Make-up angemalt und ihre Haare in eine aufwendige Hochsteckfrisur verzaubert zu bekommen. Und der Bräutigam schlüpft in seinen Hochzeitsanzug, vielleicht war er vorher ganz traditionell im Hamam mit seinen männlichen Verwandten und Freunden, und wartet auf alle Verwandten und Freunde. Mit ihnen zusammen fährt er im hupenden Autokorso durch die Stadt zum Haus seiner zukünftigen Gattin. Vorher jedoch wird noch eine große Tüllschleife an das Eingangstor zum Haus gehangen. Schließlich sollen alle sehen, dass in diesem Haus gerade eine Hochzeit gefeiert wird. Die Schleife hängt dann so lange, bis die Wettereinflüsse sie zum aufgeben und abfallen zwingen. Im Elternhaus der Braut empfängt sie den Bräutigam in ihrer Hochzeitspracht. Eine Lampe, die an die Wunderlampe von Aladin erinnert, wird auf den Boden im Wohnzimmer gestellt und das Brautpaar umrundet diese sieben Mal. Warum genau sie das tun, weiß ich nicht mehr, aber ich bilde mir ein, dass es ein symbolischer Akt des Heiratens ist. Und bringt bestimmt auch Glück. Und dann treten sie aus dem Haus. Die Braut verlässt offiziell ihr Elternhaus, in dem sie bis zu ihrer Hochzeit gewohnt hat. Am Ende der Hochzeit zieht sie zu ihrem Ehemann, der ganz traditionell wahrscheinlich auch noch bei seinen Eltern wohnt. Dort werden sie so lange wohnen, bis die Eltern von beiden ein Haus für beide kaufen. Doch nun verlassen sie erstmal ihr Elternhaus.
Vor dem Haus warten weibliche Verwandte und halten große Spiegel in den Himmel. Diese Spiegel sollen das Sonnenlicht auf das Brautpaar reflektieren, denn diese symbolieren das Glück für die Ehe. Ich versuche mich an weitere aserbaidschanische Hochzeitsbräuche, von denen es zighunderte zu geben scheint, zu erinnern, da sehe ich, wie ein älterer Herr auf uns zu steuert. Ich habe das Gefühl, ihn schon vorher gesehen zu haben. Mein Mentor "flüstert", also schreit, mir ins Ohr, dass es der Brautvater sei. Und da erinnere ich mich, dass es auch dieser Mann war, der die Hochzeit eröffnet hatte. Er steuert direkt auf uns zu und fängt an, sich mit uns zu unterhalten.
Die Lautstärke und sein Wodkaatem verhindern, dass ich etwas verstehen kann. Mein Mentor übersetzt: Der Brautvater wünscht sich, dass wir zwei Ausländer_innen einen Toast auf das Brautpaar bringen. In Aserbaidschanisch. Schnell krame ich meinen Zettel mit den traditionellen Wünschen, die ich mir vorher notiert hatte, aus meiner Tasche und schon werden mein Mitfreiwilliger und ich auf die Tanzfläche ans Mikrofon geschoben. Der Moderator, den es bei jeder Hochzeit gibt und der immer so schön alles bekannt gibt und die Glückwünsche, die gleich kommen werden, ansagt, fängt an, uns als besondere Gäste aus Deutschland anzukündigen.
Die Kameras, die ständig alles filmen und mit deren Hilfe später mehrere Hochzeitsvideos erstellt werden, sind nun auf uns gerichtet. Genauso wie 500 Augenpaare. Nachdem wir uns kurz auf Aserbaidschanisch vorgestellt haben, lesen wir unsere Wünsche vor: "Allah xoşbəxt elasin!" (Möge Gott sie für immer glücklich machen!) und "Həmişə toyda!" (Mögen alle Anwesenden immer Hochzeit feiern!) Mein Mitfreiwilliger steckt dem Moderator schnell ein paar Geldscheine zu, denn das gehört zum Toast dazu, und schon spielt die Liveband wieder aserbaidschanische Musik. Wir hätten uns ein Lied wünschen können, aber da wir keins kennen, haben wir sie einfach irgendwas spielen lassen. Nun müssen wir tanzen. Ganz nach aserbaidschanischer Manier. Und die anderen Hochzeitsgäste können sich dazu gesellen. Denn zu toasten bedeutet auch zu tanzen. Das gehört zusammen. Ich strecke also meine Arme in die Höhe, drehe meine Handgelenke hin und her und tippe abwechselnd meine Füße auf den Boden.
Die Musik scheint ewig zu dauern und ich wundere mich, warum wir immer noch gefilmt werden. Wer möchte denn fremde Menschen, die einfach nur aus Neugier vorbei gekommen sind, auf seinem Hochzeitsvideo? Irgendwann endet die Musik und ich kann mich wieder in meinem Sitz verkriechen und meinen Gedanken nachhängen. Nur vorher entspinnt sich schnell noch eine Diskussion über traditionelle Hochzeitswünsche. Wir hätten dem Brautpaar wohl auch "7 oğul, 1 qız" wünschen können. Das bedeutet "7 Söhne und 1 Tochter". Aber wen wundern solche Wünsche in einer Gesellschaft, die ihre Töchter "Besdi" oder"Kifayət", also "Genug", nennen, wenn es schon genügend Mädchen in einer Familie gibt? Ich entscheide mich, dass ich eine Pause von Musik und Essen brauche und begebe mich Richtung Ausgang.
Direkt vor dem Ausgang zieht ein Tisch mit zwei Männern und einem großen Buch meine Aufmerksamkeit auf sich. Und ich erinnere mich daran, dass ich schon gehört hatte, dass es so eine Art Buchhalter bei Hochzeiten gebe. Denn die Gäste bringen als Geschenk nur Geld mit und das wird genau bei diesen zwei Männern abgegeben und registriert. Sie notieren jedes Geldgeschenk von jeder Familie und übermitteln diese Informationen nach der Hochzeit an die Familie des Bräutigams. Diese bezahlt im Übrigen auch die gesamte Hochzeit, während die Familie der Braut alle Möbel, technischen Geräte wie Fernseher und Waschmaschine und alles, was zum Einrichten einer Wohnung notwendig ist, für das neue Ehepaar kauft. Mensch muss kein Mathegenie sein, um zu sehen, dass die Familie des Bräutigams den besseren Deal bekommt. Schließlich kann sie mit den Geldgeschenken die Hochzeit fast komplett refinanzieren. Aber dafür muss der Ehemann ab nun für seine Frau und seine zukünftigen Kinder aufkommen, da die Ehefrau nach der Hochzeit ihre Arbeit aufgibt.
Ich laufe noch ein Stück weiter, um der Musik zu entkommen und etwas frische Luft zu schnappen. An ein paar vereinzelt herumstehenden Männern vorbei und schon stehe ich auf dem Bürgersteig. Die Unmengen an geparkten Autos und wartenden Taxis zeigen das Ausmaß der Hochzeit. Ich habe keinen Blick dafür, sondern denke über die Symbolik der roten Schleife am Hochzeitskleid nach.
So offensichtlich roter Stoff auf dem weißen Kleid hat für mich nur eine Assoziation. Ich versuche mir noch eine andere Symbolik einfallen zu lassen, aber ich bleibe immer bei der Jungfräulichkeit der Braut hängen. Meine Gedanken lassen keine andere Symbolik mehr zu. Vielmehr sind sie damit beschäftigt, die Informationen, die ich in den letzten Monaten über die Hochzeitsnacht gehört habe, zu sortieren. Nach der Hochzeit werden Braut und Bräutigam zu ihm und demnach zu seiner Familie nach Hause fahren. Dort warten die weiblichen Verwandten im Wohnzimmer, eine von den weiblichen Verwandten als vertrauenswürdig eingestufte Frau vor der Tür des Schlafzimmers und ein mit einem weißen Bettlaken bezogenes Bett im Schlafzimmer auf Braut und Bräutigam. Nun wird sich herausstellen, ob die Braut noch Jungfrau war. Anscheinend interessiert es niemanden, dass nur ein Drittel aller Frauen rein biologisch bei der Entjungferung blutet. Die anderen zwei Drittel werden nur bluten, wenn bei der Entjungferung nicht vorsichtig vorgegangen wird. Um es drastischer auszudrücken: Wenn der Frau Gewalt angetan wird. Diese Tatsachen werden einfach ignoriert oder vielleicht weiß sie auch niemand.
Das Blut auf dem Bettlaken wird erwartet. Wenn das endlich passiert ist, nimmt der Bräutigam das Bettlaken an sich und bringt es zusammen mit ein bisschen Geld als Entschädigung fürs Warten zur vertrauenswürdigen Frau vor der Tür. Diese wiederum trägt das Bettlaken ins Wohnzimmer und zeigt es der Mutter des Bräutigams. Wenn Blut da ist, ist die Ehre der Braut und ihrer Familie gerettet. Früher wurde eine Braut, die nicht bei ihrer Entjungferung geblutet hat, an verschiedenen Stellen ihres Kopfes geschoren, rückwärts an einen Esel gebunden und zu ihrer Familie zurück geschickt. Heutzutage gibt es plastische Chirugie, die zur Not ein nicht mehr vorhandes Hymen ersetzen kann. Das blutige Bettlaken ist alles, um die Ehre der Familie zu erhalten. Ich denke daran, dass in ländlicheren Gegenden in der Osttürkei das Bettlaken auch heute noch vor die Haustür gehängt wird, damit alle wissen, dass diese Familie ein ehrenvolles Mädchen aufgenommen hat. Da ist es doch ganz angenehm, wenn es hier in Aserbaidschan nur weiblichen Familienmitgliedern gezeigt wird. Privatsphäre wird in unterschiedlichen Kulturkreisen eben unterschiedlich definiert. Und doch erschaudere ich bei dem Gedanken, dass dieses Mädchen, das vielleicht in ihrer Hochzeitsnacht vergewaltigt wurde, damit Blut fließt, und womöglich, falls es ihr "erstes Mal" war, nun glaubt, dass ihre 'ehelichen Pflichten' im Bett genau so ablaufen müssen, anschließend ein zweites Mal erniedrigt wird. Und das von Frauen, die Ähnliches erlebt haben. Und genau da zeigt sich das Problem. Frauen, denen es auch so erging, gehen davon aus, dass es nun mal so sein muss. Wie kann ein junges Mädchen da ausbrechen? Wenn sie sich dem verweigert, wird vermutet, dass sie etwas zu verheimlichen hat. Und schon sind sie und ihre Familie stigmatisiert. Und Familie ist von immenser Bedeutung in Aserbaidschan. Das Individuum zählt alleine nicht wirklich. Wichtig ist die Familie als Mikrokosmos der Gesellschaft. Ihre Reputation und ihre Entscheidungen, die meist vom männlichen Familienoberhaupt getroffen werden, zählen. Nichts darüber hinaus ist wichtig.
Ich höre jemanden meinen Namen rufen. Wie ein Lockruf aus einer anderen Welt. Ich merke auch, dass ich schon viel zu lange hier draußen auf dem Gehsteig stand und meinen Gedanken nachhing. Mein Körper fröstelt. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es von meinen Gedanken oder von der meteorologischen Kälte, die sich um mich gelegt hat, kommt. Ich höre meinen Namen ein zweites Mal und drehe mich lächelnd in die Richtung um, aus der der Ruf kam. Mein Mentor sagt, dass wir nach Hause gehen wollen. Ich gehe wieder in den Festsaal, betrachte noch einmal die Feierlichkeit, bemerke, dass der Wodka wohl literweise vernichtet worden ist, da nun nur noch Männer auf der Tanzfläche tanzen und taumeln, greife meine Tasche und gehe zielgerichtet hinaus. Draußen empfängt mich die Tante, schiebt mich in ein wartendes Taxi und platziert sich neben mich. Im Juni ist die nächste Hochzeit der Familie. Da soll ich auf jeden Fall auch wieder dabei sein. Ich nicke. "Həmişə toyda!" Mögen wir alle immer Hochzeit feiern! Hochzeitsimpressionen
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