Geschichte und Geschichten des Balkan
Über den "Frka za mir" und unser Alltagchaos.Außerdem eine Homage an Herrn Schumacher.
Hallo zurück...
Sa 21/09/
Wir hatten uns vorgenommen uns die Museen der Stadt anzuschauen, was an diesem Samstag auch zu einem Stück in die Tat umgesetzt werden sollte. So waren wir gegen Nachmittag im "Museum über Genozid und Völkermord zwischen 1992 und 1995", das in der Innenstadt Sarajevos recht versteckt im Obergeschoss eines Wohnhauses liegt.
Es folgt eine kleine geschichtliche Einheit, in der ich versuche das Geschehen für euch überblicksmäßig zusammenzustellen... (Herr Schumacher, sie können stolz auf mich sein) Jedoch kein Anspruch auf Vollständigkeit. Wer die Zeit live miterlebt hat, möge sich befähigt sehen diesen Teil großzügig zu überspringen....
Als point de départ müssen wir wissen, dass Bosnien im Großen und Ganzen von drei ethnische Gruppen dominiert wird: bosnische Muslime, bosnische Serben (Orthodoxe) und bosnische Kroaten (Katholiken).
In Folge der Unabhängigkeitserklärungen Kroatiens und Sloweniens von Jugoslawien im Juni 1991 kam es zu Uneinigkeiten zwischen diesen Ethnien hinsichtlich der Zukunft Bosniens. Während Kroaten und Bosniaken ebenfalls die Unabhängigkeit anstrebten, verweigerte sich die Mehrheit der Serben dieser. 1992 wurde Bosnien und Herzegowina nach einer Volksabstimmung (Ausgang klar pro Unabhängigkeit), die von den Serben aber weiterhin boykottiert wurde, von den USA und der EU als unabhängiges Land anerkannt. Die Konflikte löste das aber keineswegs, vielmehr bildete es den Ausgangspunkt des Bosnienkrieges, in dem jede Ethnie versuchte, das Land zu dominieren. Dabei erhielten sowohl die serbischen als auch kroatischen Bosniaken militärische Unterstützung der jeweiligen Nachbarstaaten, die bosnischen Streitkräfte später meist aus muslimischen Ländern. Durch ihre militärische Übermacht kontrollierten die bosnischen Serben teilweise bis zu 70% Bosniens, im südlichen Teil versuchten die kroatischen Truppen die Macht zu erlangen.
Sarajevo wurde ab dem Frühjahr 1992 in Folge der Konflikte von bosnisch-serbischen Truppen und auch Teilen der Jugoslawischen Volksarmee, die die bosnischen Serben unterstützten, 1425 Tage lang belagert. Die geografische Lage der Stadt, eingekreist von Bergen, bot dabei eine ideale Voraussetzung. So soll die serbische Artillerie um Sarajevo mit 34m Abstand enger stationiert gewesen sein, als in Berlin 1945 (50m). Ein Film im Museum beschäftigte sich mit dem Lebensalltag der Menschen in einer fast vier Jahre lang belagerten Stadt. Die Belagerung hatte Nahrungsmangel zur Folge, es gab fast nie Strom, in den kalten Wintern verfeuerte man alles, was man finden konnte. Systematisch feuerten serbische Scharfschützen auf jeden, der sich auf den Straßen bewegte und man schreckte auch vor Angriffen auf Schulen oder Busse voller Kleinkinder nicht zurück. Um dem Mangel irgendwie entgegen zu wirken, grub man zum Beispiel einen Tunnel unter dem Rollfeld des Flughafens hindurch bis in eine benachbarte Gemeinde, die nicht belagert war. Auch hierzu gibt es ein Museum, ich werde es mir bei Gelegenheit ansehen.
Inwieweit welche der Konfliktparteien in welchem Maße an Kriegsverbrechen beteiligt war, kann ich momentan nicht einschätzen und möchte mir deshalb auch kein Urteil erlauben. Das Museum ließ keinen Zweifel offen, dass die Bosniaken schutzlos den brutalen Serben und Kroaten zum Opfer fielen. Ich denke es kann aber davon ausgegangen werden, dass auch in dieser Darstellung eine Prise Nationalismus mitmischt. Gefangenenlager, in denen, nach von mir im Museum gelesenen Berichten, gezielt Häftlinge gefoltert und hingerichtet wurden, wurden laut Wikipedia von allen Konfliktparteien unterhalten. Aber es kann nicht negiert werden, dass besonders viele ethnische Säuberungen auf dem Gebiet der Republika Srpska (serbischem Territorium) stattfanden. Ein besonders schreckliches Beispiel ist hier das Massaker von Srebrenica, bei dem innerhalb von einigen Tagen etwa 8.000 Jungen und Männer ermordet wurden.
Wir alle kennen die Bilder von Krieg und von Gefangenen-/Konzentrationslagern wohl zur Genüge. Das bizarre bzw. schockierende ist jedoch die uns so bekannten Bilder aus dem zweiten Weltkrieg nun in Farbe zu sehen. Krieg ist etwas, was dem letzten Jahrhundert angehört, was unsere Gesellschaft durch irgendeine Art von Weiterentwicklung überwunden hat, zumindest in Europa, denken wir.
Wie falsch wir liegen, das zeigen eben diese Videos von Menschen, die geduckt aus Angst vor gezielten Schüssen über die sogenannte "Sniper Alley" rennen oder Berichte einer Mutter, die nach einem lauten Knall das Zimmer ihres Sohnes betritt und dort nur noch ein drei Stockwerke tiefes Loch vorfindet. Immer wieder läuft man mit einem anderen Blick an den Menschen dieser Stadt vorbei, wenn man sich vergegenwärtigt, dass jeder, der jetzt älter als 24 ist, diese Zeit miterlebt hat. Und auch wenn ich es im letzten Eintrag schon so ähnlich geschrieben habe: Ich finde es erschreckend, dass ich bei einem Abitur mit geschichtlicher Vertiefung noch nie einen Satz über den Genozid oder gar den Krieg gehört habe, der hier passiert ist. Ja, unser Lehrplan ist schon voll genug und man kann nicht alles behandeln, aber zumindest im Kontext des Nationalsozialismus könnte man doch erwähnen, dass Genozid keine Einzelerscheinung war und weitere Beispiele aufzählen, auf dass jeder Schüler sich selbst weiter damit auseinandersetzen kann.
Do 25/09/
Dieser Tag ist im Vergleich zu vorangegangenen Wochentagen echt ereignisreich gewesen. Erst einmal lernte ich meine zweite Mentorin Martina kennen, die für mich und meine privaten Belange zuständig ist. Da sie vergangenes Jahr in Regensburg ihren Freiwilligendienst geleistet hat, konnten wir uns sehr gut auf Deutsch unterhalten. Dann erreichte mich eine Nachricht von Marvin, meinem direkten Vorgänger beim ICE, der gerade in Sarajevo zu Besuch war. Wir verabredeten uns gemeinsam mit Susi und einem bosnischen Freund von Marvin zum Kaffe/Tee im Džirlo, einem Teehaus in der Innenstadt Sarajevos. Da wurde dann auch das erste Mal Salep getrunken, das ist ein kakaoähnliches Milchgetränk, schmeckt aber nach Milchreis und Zimt. Bei einer späteren Gelegenheit haben wir mal nachgeschaut, was genau Salep denn nun eigentlich ist: die getrockneten Wurzelknollen verschiedener Erdorchideen. Es ist jedenfalls immer wieder göttlich. Unsere Verkostung des Instant-Saleps aus unserer Küche brachte da nur halb so befriedigende Ergebnisse. Am Abend lud uns das Centar dann noch zur Feier des Namenstages eines ihrer Mitarbeiter ein, was uns vor die Frage stellte, wie man denn nun jemandem zu seinem Namenstag gratuliert, noch dazu auf Englisch...
Fr 26/09/ - So 28/09/
Wie so oft hatten wir in den Vortagen für unsere Wochenendgestaltung die Website Destination Sarajevo konsultiert, die einen Überblick über Events in Sarajevo gibt. Deshalb machten wir uns am Freitagabend auf den Weg ins Theater SARTR, wie immer ohne Plan und zu spät. Dort sollte der Auftakt des "European Fashion Passports" stattfinden, für uns Modeikonen genau das richtige. Fast einen Monat hatten wir auf ein solches Event gewartet, dass der Eintritt frei war und wir auf kostenloses Essen hofften, war dabei natürlich nicht ausschlaggebend. Überzeugen konnte unsere kritischen Blicke im Endeffekt nur die Designergruppe "ODE AAN OMA" aus den Niederlanden. Sehr zu unserem Bedauern hatten wohl wenig andere Besucher der Show den Namen der Gruppe richtig deuten und sich so die skurrilen Outfits erklären können.
Genauso experimentell sollte auch der Samstag weitergehen. Nachdem ich am Vormittag mein Zimmer umgeräumt hatte, brachen wir gegen Abend wieder zum historischen Museum auf. Den Anfang der dort aufgeführten Tanzperformance verpassten wir zwar leider, der zweite und deutlich avantgardistischere Teil wurde uns jedoch noch zu Teil. Verwirrt und unschlüssig verließen wir das Museum danach wieder und genehmigten uns zur Verarbeitung Cevapcici, diesmal deutlich besseres mit Käse.
Sonntag wollten wir eigentlich unsere Sonntagsausflugstradition fortsetzen und zur Quelle der Bosna fahren, die etwas außerhalb der Stadt liegt. Da wir aber erst zum Nachmittag Mittag aßen, entschlossen wir uns unseren italienischen Mitbewohnern unter die Arme zu greifen, die in unserer Gartenlaube Weintrauben abnahmen und von den Stielen zupften. Am Abend hatten wir dann drei riesige Töpfe voller Weintrauben geerntet, die wir zu Saft zerkochten, um sie später weiter zu verarbeiten.
Mo 30/09/ - Sa 05/10/
Zu Beginn der Woche gleich zwei gute Nachrichten: mit dem Erhalt des ärztlichen Attests und einer weiteren Versicherung steht der Beantragung meines Visums nun nichts mehr im Wege und zweitens hat mein Sprachkurs endlich begonnen, den ich von nun an zweimal die Woche besuche.
Außerdem hatten wir bis Samstag sozusagen Besuch aus Deutschland. Josefa, die gerade eine Balkanrundreise macht, wohnte und arbeitete eine Woche mit uns. Wir beide fuhren eigentlich jeden Abend nach der Arbeit zusammen in die Stadt, schlenderten zum Beispiel durch den muslimischen Teil, aßen traditionelle Gerichte und schauten uns die Auslagen der Geschäfte an. Unsere drei Versuche, Karten für das internationale Theaterfestival mess zu bekommen, scheiterten kläglich, alles war wohl schon lange im Voraus ausverkauft. Am Samstag veranstaltete das Centar schließlich einen Lauf für Frieden ("frka za mir"), bei dem Josefa und ich arbeiten sollten. Gegen das Mitlaufen konnten wir uns eigentlich recht gut verwehren, ließen uns schlussendlich aber doch von der Motivation der anderen Läufer mitreißen und joggten mit. Dass sie an ihrem letzten Tag in Sarajevo noch Sport machen würde, hatte Josefa sicher auch nicht erwartet, aber was macht man nicht alles für ein Tshirt des Centars und einen Müsliriegel. Damit war ihr Aufenthalt hier leider aber auch schon wieder beendet. Susi und ich begleiteten sie noch zum Bahnhof, von dem es für sie weiter nach Mostar ging.
So 06/10/
Sonntag zehrte wohl ganz schön an den Nerven aller Hausbewohner. Stellt euch folgendes Szenario bitte bildlich vor:
Ich stehe mit Valentina, meiner Mitbewohnerin, in der Küche, wir machen Frühstück, beide noch in Schlafsachen. Plötzlich dreht sich der Schlüssel im Schloss unserer Wohnungstür und der Hausmeister kommt ohne Vorwarnung in die Wohnung gestapft, hinter ihm unsere neue Mitbewohnerin und ihre Eltern. Als ich etwa eine Stunde später mein Zimmer wieder verließ, in das ich mich aus sozialer Scheu geflüchtet hatte, waren diese gerade dabei die ganze Wohnung zu putzen. Verzweifelt hinsichtlich unseres für drei Personen viel zu kleinen Kühlschrankes suchte ich Zuflucht bei Susi, die gerade Pita machte. Nur um etwa 10 Minuten später zwei weitere neue Gesichter mit großen Taschen durch die Küche der oberen Wohnung ziehen zu sehen. Der Gau: eine dieser beiden Studentinnen hatte Angst vor Hunden, ein Problem für unsere ja eigentlich in der Illegalität lebende Poppy. Egal wem der alteingesessenen Mitbewohner man nun begegnete, allen war eine Mischung aus Verzweiflung und Frustration in die Gesichter geschrieben, die sich in einem weinerlichen Lachen äußerte. Vor diesem Chaos flüchteten Susi und ich uns nun endlich zur Quelle der Bosna. Es war kalt und der Park im Halbdunkeln auch etwas trist, aber alles war besser als den neuen Mitbewohnern beim Einräumen der Küche zuzusehen. Abends wieder zuhause angekommen beendete Susi ihre Pita, während ich in einer Hauruckaktion den Kühlschrank abtaute, um mehr Platz für unsere neue Mitbewohnerin zu schaffen. Erstaunlich wie viel Platz in einem Kühlschrank wird, wenn erst einmal kein Eis mehr zwei Fächer blockiert. Die Welt sah nach unserem Ausflug schon gar nicht mehr so schlimm aus, unsere neue Mitbewohnerin half uns sogar fachmännisch bei den bosnischen Pita. Danach genehmigten wir uns auf diesen anstrengenden Tag ganz stilvoll etwas Rakija.
Soweit die letzten Wochen, ihr lest wieder von mir. Ich freue mich auch immer, von euch zu hören.
čao, Irma
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