Gastfreundschaft ist die Kunst, Besuchern das Gefühl zu vermitteln, sie seien zu Hause, während man wünscht, sie wären es.
Meine erste Einladung zum Essen bei einer aserbaidschanischen Familie. Es versteht sich von selbst, dass ich mich am Ende nicht mehr bewegen konnte.
Was Gastfreundschaft in Aserbaidschan bedeutet, zeigt das aserbaidschanische Wort für Gastfreundschaft: qonaqsevərlik. Übersetzt bedeutet es soviel wie die Liebe zu Gästen. Liebe, nicht Freundschaft. Und das ist der entscheidende Unterschied zwischen der deutschen und der aserbaidschanischen Kultur. Gastfreundlich, das sind wir in Deutschland. Wir sind hilfsbereit, freundlich, unterstützend, einladend. Aber hier, in Aserbaidschan, liebt man Fremde. Und das ist überall zu spüren. Von den vielen kleinen, hilfreichen Gesten, die mir tagtäglich die Eingewöhnungsphase erleichtern, will ich hier gar nicht erst anfangen. Das würde völlig den Rahmen sprengen. Aber als Beispiel aserbaidschanischer Gastfreundschaft kann ich von meinem Samstagabend berichten.
Am Samstagabend waren mein Mitfreiwilliger und ich zum Essen bei der Familie des Generalsekretärs der Organisation, in der wir unseren Freiwilligendienst leisten, eingeladen. Und diese Einladung bedeutet nicht nur, dass es etwas Kleines zu essen geben und anschließend etwas geredet wird. Nein, Gastfreundschaft in Aserbaidschan basiert auf Essen. Und Nichts Essen bedeutet, die Gastfreundschaft abzulehnen. Und selbst wenig essen ist schwierig.
Nachdem wir eine Packung Pralinen gekauft haben (denn zu einer Essenseinladung in Aserbaidschan erscheint mensch nicht ohne ein kleines Mitbringsel), ging es auf direktem Wege zur Familie, die schon auf uns wartete. Wir waren kaum aus dem Auto ausgestiegen, da wurden wir auch schon ins Haus geschoben. Unsere Taschen und Jacken verschwanden auf magische Weise und wir setzten uns an den Tisch, der mit Tellern voller verschiedener Köstlichkeiten gefüllt war. Auch wurde sofort der selbstgemachte Saft, den es nur für besondere Gäste gibt, in unsere Gläser geschenkt. Und die Oma der Familie, die neben mir saß, stellte sicher, dass ich auch ja sofort mit dem Essen anfing. Sie schob alle Teller in meine Richtung und gestikulierte, dass ich Essen sollte. Nun, dachte ich, dann fange ich mal an und arbeite mich durch die angebotenen Speisen. Was wir beide, also wir zwei Freiwilligen, nicht wussten, war, dass dies nur Vorspeisen waren. Kaum hatten wir angefangen zu Essen, liefen die Mutter und die Oma aus dem Raum und kamen mit mehr Tellern voller Essen wieder. Und natürlich wurden diese wieder vor uns abgestellt und wir sollten noch mehr essen. Es gab aserbaidschanische Pizza als Vorspeise, dazu verschiedene Teller mit rohem und eingelegtem Gemüse, danach ein Gericht, dessen Name ich nicht erfahren habe und bei dem ich mir nicht sicher bin, was genau die Bestandteile waren. Aber es war super lecker. Und anschließend gab es Lammfleisch mit Kartoffeln und Möhren. Und alles wurde begleitet mit dem selbstgebackenen Brot, das die Mutter zubereitet hatte.
Als wir kurz vor dem Platzen war, räumten die Oma und die Mama den Tisch ab. Wir dachten, es wäre nun getan und wir könnten zum Tee übergehen. Aber weit gefehlt. Nun standen Teller mit frischem Obst vor uns. Auch davon sollten wir reichlich nehmen. Und als wir uns wirklich kaum bewegen konnten, servierte die Oma uns zum Tee ihren selbstgebackenen Kuchen. Der einem Biskuitkuchen mit Cremefüllung ähnlich war mit kleinen Baiserblümchen an den Seiten als Verzierung und etwas Glitzerndem zur Dekoration. Die zweite Runde Kuchen musste ich mit einem Lächeln und einem Seufzen, dass mein Völlegefühl darstellen sollte, ablehnen. Die liebevolle Oma hat diese Geste verstanden und mich lachend umarmt.
Auch die Tante kam zum Tee, um den ausländischen und fremden Gästen Hallo zu sagen. Natürlich nur mit Küsschen und Umarmung.
Nachdem sich alle zurück gezogen hatten und wir nur noch mit dem Generalsektretär am Tisch saßen – völlig bewegungsunfähig -, habe ich mich gefragt, wie ich jemals wieder etwas Essen soll. Die Frage erübrigte sich am nächsten Morgen. Da wir bei der Familie übernachtet haben, ließen es sich die Gastgeberinnen nicht nehmen, ein Frühstück mit weiteren tollen Köstlichkeiten zu servieren. Es versteht sich von selbst, dass die Oma wieder neben mir saß und weiter Essen in meine Richtung schob. Und zum Abschied, als ich meine Tasche nahm, steckte sie mir viele kleine Schokoriegel zu. Nur zur Sicherheit, falls ich noch nicht genug gegessen hätte…
Beim Ausruhen und beim Versuch, meiner Gastmutter aus dem Weg zu gehen, die mir nämlich auch gefühlt jede Stunde was zu Essen anbietet, habe ich verstanden, was das aserbaidschanische Sprichwort “Ein Gast bringt Freude ins Haus” wirklich bedeutet. Denn so sehr ich mich manchmal bei solchen Einladungen (denn in der Türkei hatte ich ähnliche Erlebnisse) unwohl fühle und befürchte, dass ich zu viele Umstände bereite, merke ich, dass die Freude über Besuch nicht gespielt ist. Aserbaidschaner lieben es, Gäste im Haus zu haben – und fast genauso sehr lieben sie es, Gast zu sein. Ich weiß nur nicht, wie ich mich für diese Einladung jemals revanchieren soll. Vielleicht fange ich einfach mal an, Brotbacken zu lernen. Oder herauszufinden, wie mensch so tollen Glitzer auf den Kuchen bekommt.