Frühsport
Wenn die Welt noch schläft, ist sie am schönsten. Öde ist es in der Einöde nicht. Stattdessen könnte man eine Ode an die Freude singen, so atemberaubend ist die Welt, die einem doch fast verborgen geblieben wäre.
„Thank you for the morning walks on the sweet sunset.” sang einst die finnische Musikgruppe Sunrise Avenue in ihrem Lied „Hollywood Hills”. Nun sind es nicht die Hügel von Hollywood, die es mir angetan haben. Stattdessen die der Heimat zum Verwechseln ähnlich sehende Landschaft um die Stadt Vyžňov in der Tschechischen Republik. An Idylle dem amerikanischen Äquivalent in nichts nachstehend. Allein mir fehlt der Glaube, hier in der Fremde zu sein, erscheint sie einem doch so vertraut.
Um kurz nach sieben kräht der Hahn. So ist das auf dem Land. Meine erste Amtshandlung ist der Griff ans Handgelenk, um den Wecker zu deaktivieren, welcher vom Vorabend noch auf 07:30 Uhr gestellt war. Die anderen Freiwilligen schweben währenddessen noch in ihren süßen Traumwelten. Da ich sowieso schon wach bin, springe ich gleich aus dem weichen Bett und ziehe mir meine Sportkleidung an. Eine kurze Sporthose und ein Leibchen. Es folgt als letztes die winddichte Jacke. So bin ich wenigstens ein bisschen vor der Kälte draußen geschützt. Dann habe ich es auch schon. Keine stundenlange Vorbereitung auf den Morgenlauf.
Schlendernd gehe ich die kalte Treppe hinab. Zwei Stockwerke, zu den Schuhen, die unten bleiben mussten. Auf der dritten Etage des Schuhregals steht das Paar auf Augenhöhe.
Beim Anziehen der Schuhe ist es von Bedeutung, diese fest zu schnüren, sodass sie den nötigen Halt bieten, zumal es sich ohnehin schon nicht um richtige Laufschuhe handelt. Diese schlummern in Náchod, wer hätte auch gedacht, dass der morgendliche Lauf so zum Selbstverständnis wird?
Sind die Schuhe erst mal geschnürt, gibt es nicht mehr viel, was mich hält. Zur Türe und hinaus führt mein Weg. Schon stehe ich auf der Hauptstraße von Vyžňov. Nach links geht es zum Bahnhof, nach rechts in die Natur nach Polen. Diesen Weg gehe ich. Was auffällt, ist der Temperaturunterschied. Auf der Haut nur unmerklich, strömt die kalte Luft in meine Lungen. Der Körper braucht seine Zeit, um sich an die Kaltluft zu gewöhnen. Die ersten Meter durchfährt einen die trockene Kälte, bis der Körper genug Wärme produziert, um sich selbst zu wärmen. Dafür arbeiten die Muskeln auf den ersten paar hundert Metern ideal. Ein Gefühl der Leichtigkeit begleitet einen.
Das Dorf schläft noch. Nur die Hunde sind schon wach und verteidigen das Revier ihrer Herrchen, das ich nie vorhatte zu betreten. Sich gegenseitig in der Lautstärke überbietend, bellen die Hunde, was das Zeug hält. Jedes Haus hat seinen eigenen. Schön versteckt hinter einem Zaun und doch fuchsteufelswild, sobald sie einen Menschen sehen. Das kommt in diesen Breiten tatsächlich nicht wirklich oft vor. Der Weg zu den Müllbehältern und zurück ist auch schon das Höchste der Gefühle. Inmitten dieser morgendlichen Geisterstadt laufe ich die einsamen Gassen entlang. Meine Tritte klingen nach der Reflexion durch den groben, rauen Asphalt wie Watschelschritte eines Pinguins. Ein seltsamer Laut, der sich in den engen Straßen als Echo aufsummiert. Schnell verlasse ich das Dorf. Die erste Steigung kommt. Nicht steil, aber man spürt den nüchternen Magen. Wenn eben nicht mal ein Minimum an nötiger Energie abgerufen werden kann, wird jeder Hügel zum Berg. Wenigstens lenkt mich der nun folgende Feldweg von der körperlichen Uneigunung ab. Ein tiefgefahrener Schotterweg. In der Mitte Gras, das von der Nacht noch nass ist. Links und rechts hohes Gras. Nirgendwo lässt es sich anständig laufen. Mal hier, mal dort, immer im Wechsel. Als ich einen guten Laufrhythmus gefunden habe, kann ich den Blick schweifen lassen. Kann ich endlich realisieren, wo ich hier bin und was für eine Stimmung mir gerade nicht entgeht. Die Sonne ist schon über dem Horizont. Wohl aber nicht weit, sodass die zunehmende Helligkeit nur langsam die Morgendämmerung vertreibt. Farben wie aus Öl. Blau, rot der Himmel. Dann das grüne Gras, teilweise bedeckt mit den ockerfarbenen Heuballen. Ich laufe vorerst nicht weiter, genieße diese sinnliche Morgenstimmung. Das Beobachten der jungen Welt ist ein den Lerchen vorbehaltenes Privileg. Man hat den Tag noch vor sich, der bereits so atemberaubend begann. Ewig verweile ich nicht. Kalt wird es zunehmend, wenn man sich nicht bewegt. Weiter geht es Richtung Wald. Unzählige Weggabelungen passiere ich. Mancherorts liegen markierte Baumstämme, kein Nadelholz diesmal. Anderswo findet man Holzscheite, schön aufgetürmt, bereit zu trocknen, um später einmal im Feuer ihren letzten Zweck zu erfüllen. Neben dem weichen Holz gibt es aber auch viel Gestein. Auf den Pfaden liegen sie in Scharen, im Wald als Findlinge. Während man in Deutschland bis in die entlegensten Orte Asphalt vorfindet, ist hier alles noch so herrlich improvisiert. Nebst der Straße verändert sich die Flora andauernd. Ich biege rechts ab, das will ich mir genauer anschauen. Der Weg wird schmaler, mit der Zeit wird es unmöglich, weiterzurennen. Steil wird es, aber das ist nicht der Grund. Stattdessen läuft man wie auf einem Geröllfeld. Im Gehtempo erklimme ich den Berg. An dieser Stelle ist dieses Wort auch angemessen. In der Vergangenheit waren Hügel die einzigen Hindernisse, umso glücklicher bin ich, endlich wieder in den Bergen sein zu können. Würde ich weiterlaufen, käme ich nach Polen. Wäre zwar interessant, so ein früher Grenzwechsel, doch habe ich weder Złoty dabei, noch die Zeit und Lust, unnötig weit statt schnell zu laufen. Der Wald um mich wird dichter, es kommen Birken dazu, scheinbar von nun an ein Naturschutzgebiet, denn überall liegen tote Stämme. Pilze sehe ich nun häufiger, doch immer noch nur selten. Endlich gelange ich an eine Lichtung, von der aus ich einen anständigen Ausblick habe. Auf der gegenüberliegenden Seite der Berghang, der von der Sonne in morgendliche Goldtöne getaucht wird. Im Waldstück links huschen gerade zwei Rehkitze den Berg hinauf. Auch die Fauna scheint in Bewegung zu sein. Besuch bekommen sie anscheinend nicht so oft. Die trägen Dorfbewohner verschlägt es wohl nur selten in diese Gefilde. Und mit Sicherheit nicht um diese Uhrzeit. Bei meinen morgendlichen Läufen im Wald begegnete ich bisher keiner einzigen Person. Der Berg scheint kein Ende zu nehmen und die ursprünglich eingeplanten zwanzig Minuten waren schon jetzt überschritten. Den Gipfel werde ich nicht mehr erreichen. Stattdessen kehre ich nach einer Weile um. Die ersten hundert Meter noch gehend, bis es der Weg wieder zulässt zu laufen. Bergab spürt man erst die eben gebrauchten Muskeln. Von allen Seiten und Stellen strömen die Signale ans Gehirn. Einzig und allein dieser Umstand bringt mich weiter. Der Körper wird sich anpassen, um in der Zukunft dieser Belastung standhalten zu können. Im Moment kann er es noch nicht. Auch meine Gelenke scheinen sich seit meiner aktiven Zeit als Turner zurückentwickelt zu haben. Die Schuhe waren sowieso unpassend, so kommt es zu Komplikationen im Bewegungsapparat. Das ist die andere Seite des Frühsports. Man hat die wunderbare Natur um sich, kann die morgendliche Stille genießen, darf jedoch auch nie den sportlichen Hintergrund vergessen. In großen Schritten geht es hinab. Sonderlich viele Ressourcen fordert das nicht mehr vom Körper. Er muss jetzt nur noch die Bewegungen koordinieren. Die größte Anstrengung, der Berglauf, war geschafft. Geplant war das so nicht. Ein Feldweg, eine schöne Runde um die Äcker, hätte es auch getan. Doch wenn es sich hier schon anbietet, statt im Flachland in der Höhe zu laufen, kann man nur schlecht Nein sagen.
Der steinige Pfad endet und geht über in Waldbodenweiche. Nun werden die Schritte zusätzlich abgefedert und bald kann man schon wieder die ganze Szenerie des Morgens überblicken. Es ist unmerklich heller und noch genauso schön wie vorhin. Bald schon wird die Stimmung verschwunden sein. Mit einem Foto kann man sie auch nicht nur annähernd beschreiben, man muss sie erlebt haben. Nun gehe ich aber weiter. Wieder Richtung Hagebutten, Richtung Straße, Richtung Haus. An zweiter Stelle verweile ich noch kurz. Während die Beine nun genug gefordert waren, war es der Rest des Körpers noch nicht. Liegestütze, Rumpfbeuge. Mit bereits völlig ausgemerzten Energiereserven noch ein paar letzte Übungen. Die Beine krampfen bereits, eine den Körper durchziehende Schwäche macht jeden Satz schwerer, bis ich am Ende nur noch am Boden liege. Auf dem Asphalt hinterlasse ich meine Spuren in Form von Rücken- und Handabdrücken. Ich stehe auf, gehe nicht, laufe nicht, sondern sprinte die letzten paar hundert Meter bis zum Haus, um dann völlig entkräftet in die Küche zu gehen und vier Gläser Wasser zu trinken. Laufschuhe aus und Hausschuhe an. Dann die zwei Stockwerke nach oben. Zwei Stufen auf einmal. Ich öffne leise die Zimmertür, komme in einen stickig-heißen Raum. Finde unter den sechs Betten nur ein leeres vor. Mein eigenes.