Erinnerungen
Von wunden Handgelenken, genervten Zugfahrgästen, sich leerenden Kaffeetassen und der Suche nach Genugtuung.
Nico Rosberg wird Formel-1-Weltmeister und ich erreiche endlich die 50.000-Wörter-Marke. Besser kann ein Tag kaum sein.
Nun ist so ein Monat eine verdammt lange Zeit. Wenngleich es für manchen eng mit dem Erreichen der zum Gewinn notwendigen 50.000 Wörter werden kann, so wird auch der nicht leugnen, dass der November lang war. Das Ziel ist hoch gesteckt, sodass einem die Arbeit trotzdem nie ausgeht.
Was ich unterschätzt habe, ist jedoch das Maß an Durchhaltevermögen, das es braucht, um nicht bei 25.000 oder 40.000 Wörtern stehen zu bleiben. Diese zwei Stellen waren nämlich am heikelsten. Man könnte durchaus meinen, nach der Hälfte würde es besser, doch das ist ein Trugschluss. Die ersten Seiten schrieben sich wie von alleine. Ich hatte die Handlung genau im Kopf und es ging immer weiter. Nach der 25.000-Wörter-Marke wurde es zäh. Es galt, den Zwischenraum zwischen Anfang und Ende auszufüllen, was manchmal sogar langweilig war, weil man dauernd nur schrieb, um etwas größeres anzudeuten, beziehungsweise die Grundlage dafür zu schaffen, dass etwas anderes und viel fulminanteres folgen kann. Das ging tagelang so. Fortschritte waren dann erst wieder zu erkennen, als man die 30.000 Wörter, die 35.000 Wörter geschrieben hatte und es langsam dem Ende zuging. Dieses war dann allerdings nochmal eine Tortur. Man ist es nach all dieser Zeit leid, weiterhin Buchstaben auszuspucken wie ein Roboter. Jedenfalls die Buchstaben für den Roman. Ging es um andere Texte, war ich viel motivierter. Eine Herzensangelegenheit war dieser Roman ohnehin nie. Es war lediglich der Versuch, mir selbst zu zeigen, was ich zu leisten imstande war.
Das Hauptziel ist nun geschafft. 50.000 Wörter sind geschrieben. Bis Mittwoch werden noch einige folgen, die Handlung wird ihr Ende finden und damit auch der Roman. Es ist ein seltsames Gefühl zu wissen, dass jetzt alles vorbei ist. Ewig hatte man auf diesen Moment hingefiebert. Beim Ankunftsseminar beispielsweise, als man bis spät in die Nacht im Bett lag und schrieb, während man eigentlich nur noch schlafen wollte. So oft hatte man sich ausgemalt, wie es sein würde, zu gewinnen. Nun weiß man es, doch es gibt kein Feuerwerk, kein Händeschütteln, (noch) keine Belohnung. Alles, was man sieht, ist diese fünfstellige Zahl mit der fünf am Anfang. 27 Tage habe ich dafür gebraucht. Es gab Tage mit 0 geschriebenen Wörtern, dann aber auch Tage wie den fünften November, als ich 5008 Wörter schrieb. Im Durchschnitt waren es am Tag 1700 Wörter. Das sind in etwa 2,8 am Rechner geschriebene DIN-A4-Seiten. 5,7 handgeschriebene Seiten mit meiner Handschrift. Wie kann ich mich noch an die Zeiten in der Schule erinnern, als man es für unmachbar hielt, einen mehr als zweiseitigen Aufsatz zu schreiben. Es wurden 4, 5, 9, dann der Meilenstein: 10, zweistellig, dann immer weiter: 14, 17 und schließlich 19. Dem Schreiben wurden keine Grenzen mehr gesetzt. Man machte unaufhörlich weiter. Es sind nur schwarze Zeichen auf weißem Papier. Das Leben geht weiter. Auch nach diesem Monat, dem süßen November mit all den Erfahrungen, die er brachte, den sommerlichen Herbsttagen, die er genauso brachte wie winterliches Schneetreiben, wird es weitergehen. Der NaNoWriMo ist für mich für dieses Jahr beendet. Mit dem Schreiben ist jedoch noch lange nicht Schluss.
Für mein Umfeld mag es ebenfalls eine sonderbare Situation gewesen sein. Ich hatte es im Vorfeld nur einer Person erzählt. Als ich während des Schreibens in Erklärungsnot kam, noch zwei weiteren, doch im Großen und Ganzen blieb es ein persönliches Projekt. Es war nicht vorgesehen, es groß zu inszenieren. Manchen Leute möchte es als Motivation dienen, dass alle Freunde wissen würden, wenn man scheitert. Ebenso hätte man dann aber auch die Wertschätzung genossen, die einem im Fall eines Gewinns zugekommen wäre. Mindestens zwei Freiwillige hatten es durch meine Einträge hier erfahren, der Rest blieb jedoch ahnungslos. Wunderte sich womöglich, warum ich die ganze Zeit gähnte, Kaffee wie Wasser trank, mich darüber ärgerte, am Wochenende eine Pflichtveranstaltung besuchen zu müssen, wenn diese zwei Tage die einzigen in der Woche waren, in denen man das Werktagsdefizit wieder ausgleichen konnte. Wenn ich in der Öffentlichkeit schrieb, war den Leuten bewusst, dass es wohl keine Textnachricht sein würde, sondern ein längerer Fließtext. Als ich im Zug meinen Klapprechner auspackte und darauf Seite um Seite schrieb, erntete ich verdutzte Blicke, konnte mich jedoch darauf verlassen, dass mein Text nicht verstanden wurde, da er selbstverständlich auf Deutsch war, was die Tschechen oder Slowaken eben nicht gewohnt waren. Egal wie oft mein neugieriger Sitznachbar also auf den Bildschirm starrte, er würde sowieso nichts verstehen. Selbst wenn er der deutschen Sprache mächtig gewesen wäre.
Auch körperlich war der NaNoWriMo eine Grenzerfahrung. Es ist ein Glücksfall, dass ich in der Schule, an welcher ich tätig bin, täglich Sport treiben kann. Andernfalls wäre meine gesundheitliche Verfassung vermutlich suboptimal. Außer der Arbeit und dem Schreiben bestand der Alltag nur noch aus Essen, Trinken und Schlafen. Viel mehr war da nicht. So ein Leben ist produktiv, aber auf Dauer langweilig. Zudem überhaupt nicht zu empfehlen, wenn man noch soziale Verpflichtungen hat. Wollen Sie ihre Freunde loswerden? Schreiben Sie ein Buch! Ich übertreibe. Ganz so schlimm war es nicht. Trotzdem fehlt manchen Leuten das Verständnis für so eine Freizeitbeschäftigung. Eine Freiwillige, die davon wusste, nannte es „Obsession”, jedoch mehr im Sinne eines Wahns und weniger einer Leidenschaft, aufgrund welcher das Werk ursprünglich entstand. Man wird anecken, das muss einem bewusst sein, bevor man sich an solch ein Projekt wagt. Der diesjährige NaNoWriMo ist fast vorüber, doch der nächste folgt bestimmt. Ich kann jedem nur empfehlen, einmal selbst diese Erfahrung zu machen.