Eine kleine Begegnung
Eine nächtliche Begegnung entwickelt sich zu einem interessanten Gespräch. Für Lockenjule bedeutet das vor allem: einige Dinge, die sie über Moldawien zu wissen glaubte, werden zurechtgerückt.
Wir waren auf dem Heimweg von einer Bar durch eine der ersten lauen Frühlingsnächte, zu dritt in ein lustiges englischsprachiges Gespräch über eben kennen gelernte Freiwillige vertieft. Plötzlich drehte sich Rosi leicht perplex herum und antwortete: "Hello?!". Wir zwei anderen Damen wunderten uns zunächst über Rosis Begrüßung ins nichts, bis wir zwei junge, leger gekleidete Herren unter einer etwas entfernten Laterne entdeckten, die wahrscheinlich erstbegrüßend Rosis spontane Reaktion hervorgerufen hatten.
Ingrid wirkte zunächst eben so verwundert wie ich darüber, dass das darauf folgende "Where are you from?" der zwei jungen Moldawer ausnahmsweise mal nicht aus dem Mund eines kurz geschorenen Kopfes kam, an dem eine schwarzledern bejackter breiter Rumpf hing, der wiederum in ein ebenso schwarzes Beinkleid und als visueller Höhepunkt in schwarzen Lackschuhen in Schnabelform mündete. Es hing auch kein "dewuschki" (Mädels), "cladkaja" (Süße) oder "moja maljenkaja" (meine Kleine, mein persönlicher Favorit) am "Where are you from?" dran. So wie man es hier des Öfteren hört, und es in diesen Fällen frei mit "Lust auf eine interkulturelle Begegnung in meinem Schlafzimmer?" übersetzen kann. Der weder sexuell noch aggressiv motivierte Charakter des Ansprechens ist mir freilich erst im Nachhinein klar geworden. Im Moment des Ansprechens durchzog meinen vorderen Cortex nur ein Leuchtschriftzug "Achtung, Möglichkeit neuer einheimischer Bekanntschaft".
Eins, zwei Minütchen später führten wir dann bereits ein Gespräch zum Thema Europäer in Moldawien. (Ja, die Moldawer bezeichnen erst alles hinter der rumänischen Grenze als "Europa"). Das Gespräch nahm anfänglich seinen üblichen Verlauf, man fragte uns nach Herkunft und dem Grund unseres Aufenthalts hier; man zwang sich ein Lächeln bei der Antwort 'Freiwilligendienst' ab… aber schon dabei schwang ein (mir in Moldawien vorher nie begegneter) Sarkasmus mit. Diesem war dann auch der immer offenere Charakter des Gesprächs bei Laternenschein zu verdanken, in dem mir in wenigen Minuten etwa zwanzig Gedankenstränge zurechtgerückt wurden.
Einer davon war der Zweig 'Eigene Entwicklung', abgerupft und neu verpflanzt bei der etwas zynisch wirkenden Frage des größere und englischkundigeren der beiden Herren: "What, you are here for nearly six month now, and you still don’t speak Romanian?" (Was, ihr seid schon fast sechs Monate hier und sprecht immer noch kein Rumänisch?) Ja, es ist traurig aber war, fast sechs Monate weit über 100 Tage, und immer noch verstehen wir etwa die Hälfte und können geschätzte 5% in Worte fassen. Was lehrt uns das? 1. Die Freiwilligengemeinschaft muss bombig sein, dass wir so viel nur mit ihr und nur auf Englisch machen. 2. Die Moldawische Gesellschaft unseres Alters entsprich zumeist nicht dem Menschentyp, mit dem ich lange reden möchte (ich weiß einfach zu wenig über Nagellack und Rennautos).3. Wir sind immer noch genauso voller Vorurteile wie in der Anfangszeit. 4. Wir hatten mit diesen ersten Eindrücken vielleicht auch nicht grundsätzlich Unrecht. 5. …und wichtigstens: Wir leben immer noch zu parallel statt mittendrin in Moldawien.
Aber bekanntlich ist die Analyse der erste Schritt zur Lösung des Problems. Um also unser anscheinendes Desinteresse an landessprachlicher Kommunikation ein wenig zu relativieren versuchte ich das Thema und den kulturellen Bereich umzulenken. Dazu ein kleiner Einschub: In Moldawien gibt es die wunderbare Tradition, dass ab dem ersten März alle Leute rot-weiße Anstecker zum Zeichen des Frühlingsbeginns tragen. Von Engel über Blümchen bis Bommel ist alles kitschig-niedliche dabei, bei Männern wie bei Frauen. Zu diesen rot-weißen Ansteckern gibt es eine kleine Sage, in hundert Versionen und Ausschmückungen, aber alle haben sie selbstverständlich mit Liebe zu tun.
Ich fragte also die beiden lässig gekleideten Herren zur Herkunftsgeschichte jener hübschen Tradition. Daraufhin trat ein breites Grinsen beim größeren (englischkundigen) von beiden aufs Gesicht. Gerade vorhin hätten sie darüber gesprochen, und sein Kumpel hier hätte gerade die schönste Version heimlich still in einer Ecke der eben besuchten Kneipe verfasst. - Nun, die wollen wir natürlich hören. – Ob wir denn überhaupt wüssten, wie die Anstecker heißen.- (Ich hatte es eine Stunde vorher gelesen, aber natürlich schon wieder vergessen.) Nein, wir sind ja wie bereits erörtert Sprachidioten. - Na gut, sie heißen 'Martişori' (Märzchen), das sollten wir wenigstens wissen, wenn wir uns das Zeug schon an die Jacke klemmen.- Und wie geht nun die bravouröse Geschichte? - Ach nein, bitte, musst du das jetzt den Mädchen erzählen, wie steh ich denn dann da! - Doch, wir wollen sie aber unbedingt hören! - Na gut.
Es waren also einst zwei Kätzchen, ein rotes und ein weißes und die spielten beide liebend gern miteinander. Dann wurden sie älter und verliebten sich ineinander. Eines Tages kam eine böse Frau und gab dem roten Kätzchen einen vergifteten Apfel, woraufhin es starb. Daraufhin starb das andere Kätzchen vor Kummer auch. – Und was hat die Geschichte mit dem März zu tun? - Ach bitte, wir sollen doch nicht so oberflächlich denken, sondern etwas tiefgründiger, bitte. Im Wort Martişor steckt nämlich sowohl das rumänische Wort 'mar' (Apfel) als auch 'pisoi' (Kätzchen) drin, und daher kommt die Geschichte. Haha! Sooo tief hat noch keiner unter die rot-weiße Oberfläche geschaut!
Gerade wollten wir unsere Bewunderung zumindest für die Kreativität dieser Geschichte bekunden, als hinter uns eine ältere Herrenstimme aus 1,60 m Höhe verlauten ließ: "Das ist aber ein sehr moderne Version!" Wir drehten uns um und vor uns stand ein lächelnder Mann Ende vierzig, der wohl unser Gespräch verfolgt und verstanden hatte und zu alledem die nicht sehr Deutsch-als-Fremdsprache-typische Kritik einer sehr modernen Version verlauten gelassen hatte. Wie sei denn dann die richtige Version, fragten wir. "Immer irgendwas mit Liebe" war die erste Antwort; und nach kurzem Überlegen "Und etwas mit Blut, das von einem Finger in den Schnee tropft. Ich weiß das auch nicht so genau." Aha, soviel zum Thema den Moldawern ist ihr Kulturgut viel wichtiger als den Deutschen. Wieder ein Gedankenstrang ein wenig umgepflanzt.
Das Gespräch ging noch eine Weile hin und her, wir tauschten Telefonnummern mit den jungen Herren (natürlich nur zum Zwecke der Völkerfreundschaft), dann kam auch schon deren Bus. Eigentlich wollten wir auch los, aber irgendwie faszinierte uns die kleine Person mit gegerbter Haut und stoppeliger Halbglatze doch so sehr, dass wir erst viele Minuten später tatsächlich loskamen. Und dann hatten wir erst recht eine Menge zu besprechen. Hatte er uns doch so viel in freundlicher Aufrichtigkeit mitgeteilt, unseren Fragen geduldig und ehrlich beantwortet. Woher er so gut deutsch könne? Sechs Jahre in Deutschland, in Duisburg und Berlin. Was er dort gemacht hätte? (Man stelle sich jetzt ein grinsendes leicht goldzahniges Lächeln vor…) "was wohl, natürlich Schwarzarbeit!" Aha daher kann er also diese ganzen Fremdsprachler-untypischen Sätze wie "Ich hab keen Wort verstandn!" (in welcher Stadt er diese Aussagen wohl gelernt hat…).
Er war übrigens hoch erfreut darüber, dass noch mehr Deutsche und allgemein Westeuropäer hier seien. Wo doch die Deutschen eigentlich alle glauben, dass ab deutsch-polnischer Grenze alles Russland ist. "Da ist es schön, wenn junge Menschen herkommen, damit sie sehen: Ist nicht alles nur Russland! Natürlich ist viel von Sowjetunion, aber nicht alles! Gibt immer zwei Seiten, alte und neue!" Hat er nicht unrecht mit, sollte jeder mal drüber nachdenken, der das liest. Dann kamen wir noch zum Thema, dass so viele Jugendliche egal woher auf dem europäischen Kontinent unbedingt nach Amerika wollen. Wir gehören nicht dazu, betonten wir sogleich, oder wie Rosi es so treffend beschrieb: "Darum sind wir ja HIER!" Er nickte, zufrieden mit uns, sagte dann aber nachdenklich "Bei uns wollen immer alle nach Amerika. Das ist nicht gut. Sie sollen lieber nach Europa. Ist nicht so weit weg!" (Man bemerke das 'nach' Europa).
Korrektur eines weiteren Gedankenstranges: Nicht alle moldawischen Eltern sind grundsätzlich gegen einen Auslandsaufenthalt ihrer großen Kinder (wie hier allseits beklagt wird). Nur scheinen viele Jugendliche rein von der Auswahl des auswärtigen Aufenthaltsorts noch nicht weiter als bis zu den allpräsenten 'Work and Travel'-Plakaten diverser US- amerikanischer Organisationen gekommen zu sein. Oder aber andersherum, sind die Eltern vielleicht von den peinlich übertriebenen Plakaten dermaßen abgeschreckt, dass sie ein solches Gehabe bei allen westlichen Ländern vermuten. Danke USA.
Wie auch immer, nachdem wir uns geschätzte sechs Mal verabschiedet hatten und daraufhin trotzdem immer wieder ins Gespräch gekommen waren, rissen wir uns endgültig von unserer neuen Bekanntschaft los. Und siehe da, der kleine russische Herr verlangte ganz untypischer Weise keinerlei Kontaktdaten unsererseits. Er schien vollkommen zufrieden mit dem Gespräch selbst. Wiederum also Anlass genug mein Hirngeäst ein wenig umzupflanzen: Moldawer, auch russischer Natur, sind nicht immer nur an jeglichem Beziehungsaufbau interessiert; insbesondere, wenn man sie allein und nicht im hier üblichen Rudel antrifft. Und manchmal zeigen sie im Gespräch mehr Weltoffenheit, als es ihr Schuhwerk vorgibt.