Ein wenig Sicherheit muss sein
Seit der Erlassung eines Gesetzes aus dem Jahr 2011 sind alle Bewohner und Touristen Estlands dazu verpflichtet, im Dunkeln und bei schlechter Sicht einen Reflektor für die eigene Sicherheit zu tragen. Was die einen loben und sogar noch als schickes Accessoire bezeichnen, empfinden andere als überflüssig und unpraktisch. Doch wie viel nützen die kleinen Reflektoren, welche von Katzenaugen inspiriert wurden, in dem nördlich gelegenen Land tatsächlich?
Estland ist das kleinste, dafür aber auch das am nördlich gelegensten Land der drei baltischen Staaten. Insbesondere im Winter sind die Tage daher kurz, sodass im kalten Dezember häufig nur sechs Stunden zwischen Sonnenaufgang und Untergang gezählt werden können. Nichtsdestotrotz halten sich Einwohner und Touristen auch im Dunkeln auf den Straßen auf, um ihren alltäglichen Einkäufen nachzugehen oder um die Hauptstadt Tallinn zu erkunden. Nicht selten kommt es dabei in den Winterabenden zu brenzligen Situationen zwischen Autofahrern und dunkel gekleideten Fußgängern, welche schlecht zu erkennen sind. In Estland waren im Jahr 2011 41% der Verkehrstoten Fußgänger, wobei der EU-Schnitt im selben Jahr gerade einmal bei 21% lag. Vielleicht waren es diese Zahlen, welche die estnische Regierung daher im gleichen Jahr dazu bewegten, das Tragen von Reflektoren zur Pflicht zu machen. Die Reflektoren müssen dabei mindestens 15 Quadratzentimeter Fläche aufweisen und an der rechten Außenseite der Oberbekleidung in einer Höhe von 50-80cm vom Boden gemessen befestigt werden. Trotz dessen, dass selbst viele Esten an der erhöhten Sicherheit durch einen solch kleinen Reflektor zweifeln, tragen immerhin knapp zwei Drittel der Erwachsenen und sogar noch deutlich mehr Kinder diese sogenannten Katzenaugen. Starken Anteil daran hat jedoch vermutlich die saftige Geldstrafe von bis zu 400 Euro, welche die Polizei jedem Fußgänger ohne reflektierendes Accessoire aufbrummen kann. Weiß man, dass für die Nutzung eines Mobiltelefons während des Autofahrens die gleiche Summe fällig werden kann, so kennt man auch den Stellenwert des Tragens eines Reflektors.
Die Wirtschaft profitiert
Auch wenn die estnische Republik, unter anderem ebenfalls durch den vermehrten Einsatz von Reflektoren, die Anzahl der Verkehrstoten um bis zu 40% reduzieren konnte, so gibt es noch weitere Gewinner bezüglich des förmlichen Kaufwahns um die Reflektoren. Möglichst ausgefallen und individuell sollen die helkurs, wie die Esten sagen, sein, sodass es inzwischen ganze Firmen gibt, die sich auf das Entwerfen, die Produktion und den Verkauf der kleinen Anhänger spezialisiert haben. Das Unternehmen Softreflector mit Sitz in Tallinn ist dabei eines der erfolgreichsten mit weltweit über 80 Millionen verkauften Reflektoren. Selbst nach Amerika exportiert das im Jahr 2003 gegründete Unternehmen und lieferte beispielsweise auch im Jahr 2015 die Reflektoren, welche den weltbekannten Weihnachtsbaum in Washington D.C. beim Weißen Haus schmückten. Softreflector ist es mit innovativen Ideen gelungen die langweiligen und altmodischen Reflektoren zu einem wahren Trend werden zu lassen. Verschiedene Farben und Formen vom Weihnachtsmann über Totenkopf bis hin zum Bierkrug, lassen keinerlei Wünsche offen. Zwar sehen diese Reflektoren nicht mehr so aus, wie die ersten von dem Straßenbauer Percy Shaw im Jahre 1934 erfundenen, doch funktionieren sie noch immer nach dem gleichen Prinzip. Der Brite ließ sich von den reflektierenden Augen nachaktiver Tiere inspirieren, daher auch Katzenaugen, sodass sowohl damals als auch heute das auffallende Licht auf einen Reflektor wieder stark zurück reflektiert wird.
Sicherheit ist nicht alles
Das trotz der genannten Vorteile einige Fußgänger in Estland keine Reflektoren bei sich tragen, lässt sich einfach erklären. Insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen gelten die kleinen Anhänger trotz lustigen und interessanten Formen nämlich meist als unbeliebt. Sie passen weder zu den modernen und schicken Kleidungsstils, noch sind sie besonders praktisch oder handlich. Das Band, an welchem der Reflektor an der rechten Körperseite hängen muss, verheddert sich nicht selten mit Rucksack oder Arm und selbst das Gedrängel beim Einsteigen in Bus oder Bahn wird mit diesem zur Wissenschaft. Für viele Esten geht daher die Gemütlichkeit noch immer vor der Sicherheit. Des Weiteren muss speziell in größeren Städten wie Tallinn oder Tartu auch bedacht werden, dass es sich bei vielen Fußgängern um ausländische Touristen handelt. Auch wenn in Deutschland beispielsweise das Auswärtige Amt auf die Reflektorpflicht hinweist, so reist dennoch der Großteil der Touristen unwissend an. Aus eigener Erfahrung kann ich beurteilen, dass man die kleinen Anhänger in den ersten Tagen für Preisschilder oder einen seltsamen Trend hält, sie jedoch niemals mit einem Gesetz in Verbindung bringt. Wird man schließlich von Einheimischen aufgeklärt, so glaubt man zuerst an einen Spaß, der mit Ausländern gemacht wird, ehe man sich letztlich halb verwundert und halb erschrocken, weil man die ganze Zeit zuvor von der Polizei hätte erwischt werden können, einen kleinen Reflektor besorgt. Touristen, welche jedoch nur einige Tage bleiben, erfahren entweder gar nicht, dass es dieses Gesetz gibt oder sehen keine Notwendigkeit darin, sich einen Reflektor zu kaufen, den sie in ihrem Heimatland vermutlich nie wieder benutzen werden. Auch wenn dies verständlich ist, so sollten sich Touristen doch eigentlich viel mehr fragen, weshalb sie Reflektoren in ihrer Heimat nie nutzen würden und weshalb Estland das einzige Land mit einem solchen Gesetz ist. Denn dunkel wird es schließlich überall einmal und gegen ein wenig mehr Sicherheit im Straßenverkehr sollte doch nichts einzuwenden sein.
Quellen:
https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/estlandsicherheit/200754#content_0
https://www.visittallinn.ee/ger/tourist/planung/gut-zu-wissen/praktische-informationen
https://www.visitestonia.com/de/uber-estland/warum-sie-in-estland-einen-reflektor-tragen-sollten
https://kurier.at/chronik/oesterreich/tote-fussgaenger-im-strassenverkehr-oesterreich-ueber-eu-durchschnitt/11.570.344
https://www.studieren-weltweit.de/estland-katzenaugen/
https://softreflector.com/about-us
https://de.wikipedia.org/wiki/Katzenauge