Ein Tag im Herbst
Endlich gibt es wieder neue Käsegeschichten von Johannson, diesmal aus Hexham, einem kleinen, nordenglischen Küstenstädtchen. Zwischen einem Stadtrundgang entlang alter Häuser und dem Einatmen des für Hexham scheinbar typischen Holzgeruchs, erfreut sich Johannson bei Haggis-Sandwich und am Erwerb von Käse unklarer Herkunft.
Da war ich also aus der Bahn geworfen, und aus dem Wochenende war nur noch das Beste zu machen. Ein Sonntag stand zur Verfügung, den ich unter Androhung von Depressionen nicht auf der Farm verbringen wollte. Was hatte ich als Nahziel zur Verfügung? Alnmouth, abgehakt; Berwick-upon-Tweed, abgehakt; Alnwick, klappt irgendwie nie; York...lieber nicht dran denken. Da fiel mir ein Halbsatz Hannis wieder ein, dass sie mal nach Hexham wollte. Ach ja, nach Westen gehen ja auch Züge...
Fahrt ins Graue
Früh wach gewesen, Sachen noch vom Vortag reisefertig gepackt, auf nach Newcastle. Der Zug offenbart bei der Fahrt über die Tyne-Brücke die Vorbereitungen für das Tall Ships Race. Das Baltic ist ganz in rosa gehüllt, ein Riesenrad daneben erlaubt noch weitere Ausblicke über die Stadt, eine ganze Reihe kleinerer und zwei große Schiffe liegen an den Kais und an ihnen entlang drängt sich bereits eine bunte Menge. Das Wetter ist nur mittelmäßig, aber heute ist man ja bereits ohne große Erwartungen aufgestanden.
Routiniert Zugtickets besorgt und dann zufällig einen Bus gefunden. Tagestickets hat man ja eh und so sitze ich eine Stunde lang mit einer Charverfamilie, bis ich kurz vor eins in Hexham wieder ausgespuckt werde.
Nichts zu verlieren
Hexham ist eines von vielen kleinen, alten Städtchen, die wie Perlen an der Tyne und an der Eisenbahnstrecke von Newcastle nach Carlisle an der Westküste aneinandergereiht sind. Ruhig und recht schön. Verschlafen und nicht ungewöhnlich aufregend. Nichts Besonderes, aber nett. Keine Überraschungen, keine Enttäuschungen. Genau das richtige für einen Sonntagnachmittag.
Eine graue, kontrastlose Wolkendecke hängt über dem ganzen Land, dafür kein Regen, kein Wind. Auch nicht besonders warm, aber was soll’s: den Mantelkragen hochgeschlagen, Hände in die Taschen und den englischen Juli genossen. Es ist einer dieser Tage ohne Zeit, an denen man den Unterschied zwischen Morgen und Nachmittag nicht bemerkt. Ein diskreter Herbsttag; was ich zugegebenermaßen mag. Der typische Sonntagnachmittag, wenn okay gut genug ist und man sich Kirchen und Parks anschaut, über nasses Kopfsteinpflaster läuft und auf Panoramaschildern liest, welche Berge man im Dunst am Horizont nicht sieht.
Im Westen nichts Neues
Wie ich schon vermutete bin ich bereits im Ort gewesen, auf dem Rückweg vom Lake District mit meinen Eltern. Trotzdem kein Verlust, wir hatten damals keinen besonders genauen Blick auf Hexham werfen können.
Das kleine Geschichtsblatt aus der Touristeninformation in der Hand stapfe ich vorbei am alten Gefängnis (später Unterkunft für Stadträte), das geschlossen hat; und dem Stadttor (früher Teil der Stadtmauern) zum leeren Marktplatz (Montag und Samstag) und dem bekanntesten Bauwerk der Stadt, der Kirche (normannisch).
Schau an, sogar einen National-Trust-Laden gibt es hier, gleich neben einem Kaffeehaus. Aber Hunger hab ich schon eher, mal sehen ob irgendwas aufhat. Nein, nur Woolworths und ein Buchladen mit ein paar Charvern davor. Ach, halt, dazwischen ist ein Naturkostladen. Datteln für 75p, gut genug.
Wer hätte das gedacht
Jetzt wäre ein bisschen Sitzen und etwas Warmes trinken doch ganz nett. Über den Marktplatz wieder zurück zum Teehaus und einen Vierertisch okkupiert. Hmm das sieht aber gut aus. Sehr stilvoll, sehr gepflegt, mit zwei überlasteten Bedienungen. GUSTO! heißt der Laden. Wie ein Schauraum dieser hippen, neuen Mittelmeer-Stil-Kultur-Essens-Bewegung. Mit dem Rauschen des Chrom-Stahl-Cappuccinoautomaten ständig im Hintergrund und einem brandneuen IKEA-Regal an der Wand, voller Tee- und Kaffeepackungen und Edelstahlsiebe mit eingestanztem „Carbonara“ und „Tagliatelle“. Darüber ein Handtuch im Design eines Pengiun-Buchcovers, „Hotel Splendide“ und daraus Zitate mit Kreide auf einer Tafel an der Decke geschrieben. Ja, sehr stylisch, sehr cool. Nur nicht so teuer, ausgerechnet der Kaffee ist sogar vergleichsweise billig. Dafür gleich mit angeschlossenem Deli.
Geschmacksfrage
Tee will ich und Haggis-Sandwiches, um doch etwas Ordentliches im Magen zu haben und auch halb aus Neugierde. Bis das kommt, geht etwas Zeit ins Land und ich kann die beiden Postkarten schreiben, mir die Stadtkarte angucken, Pläne machen. Viele, viele Bürgerhäuser, die bedeutendsten aus dem 17. Jahrhundert. In ganz Hexham! Ah, da kommen die Sandwiches... Hmm, die sind gut. Ich mag Haggis.
Alte Leute um mich herum, ich schlürfe meinen warmen Tee auch schon wie sie. Beim Bezahlen frage ich, woher die Zitate an der Tafel kommen und die Bedienung weiß es nicht, das ist alles nicht von ihr.
Bevor ich gehe schaue ich noch rüber zum Deli-Stand, wo ein paar griesgrämige Käsereste unmotiviert verteilt liegen und nehme ein Stück vom am komischsten Aussehenden mit. Was das ist, frage ich. Käse aus der Schweiz, sagt sie. Wie der schmeckt, frage ich. Keine Ahnung, sagt sie, sie möge keinen Schweizer Käse. Sehr ermutigend.
Dann kommt ihre Kollegin vorbei und fragt ihre Freundin an der Theke, woher die Zitate kommen. Sie: „Hä?! Ach die Zitate. Keine Ahnung. Die sind von der anderen Kollegin.“ Das kommt dabei raus wenn man mal ein bisschen Kultur an den Tag legen will. Der Käse ist übrigens ziemlich gut, ein bisschen zu süß, aber nett; Paul meint, es sei Schafskäse. Wer weiß.
Leben im Untergrund
Bald zwei Uhr, Zeit, den Hauptteil anzugehen. Also rüber in die Kathedrale, wo wir letztes Mal wegen eines Gottesdienstes nicht rein konnten. Diesmal wird einem sofort ein Infoblatt in die Hand gedrückt, das ich – wie immer – komplett durchlese. Und so erfahre ich auch das letzte Detail über den angelsächsischen Vorbau und die Fenster (hey, ich erkenne bereits die regionalen Heiligen) und den Chor und den Altar mit dem seltenen Bild „Todestanz“. Ich kann die Leute sogar überreden, die Krypta aufzuschließen, wo sie zur Reformation Leute drin versteckt haben.
Ja ja, so degeneriere ich vor mich hin, gucke mir schon ganz interessiert alte Häuser an.
Parklife
Was soll’s, eine gute Stunde später wieder auf die kalten Straßen, rundherum um die Stadt. Alte Häuser mit Doppelgauben guck ich mir an, den ganzen Tag. Noch aus der Renaissance sind sie, aber bereits im viktorianischen Stil.
Ach, der kleine Bach ist nett, und über eine kleine Brücke kann man hinauf zum Stadtpark steigen. Nach einem großen Bogen stehe ich hinter der Kirche auf den großen Gemeindefeldern, früher im Besitz einer Adelsfamilie und später der Stadt vermacht. Jetzt mit einem kleinen Spielplatz, einer ausgedehnten Grünfläche und einem äußerst hübschen Park, am Ortsrand. Ein junges Elternpaar sieht seinem Kind beim Rutschen zu. Huuuiii! Daneben steht die alte Schule, so spektakulär wie sie am Wochenende sein kann. Viel besser ist daneben das alte Anwesen eines reichen Händlers, später ebenfalls in öffentliche Hand gegeben, mit einem wunderschönen kleinen Park davor. Englischer Rasen kreiert ein quadratisches Cricketfeld und rundherum sind Blumenbeete und ein paar Kunstinstallationen. Warum riecht Hexham überall nach frisch gesägtem Holz?
Prioritäten
Im zuerst erwähnten großen Park lungern ein paar Charver herum und ich lerne mehr über das ursprüngliche Design der Anlagen. Dann stapfe ich wieder zurück auf die Straßen, sehe ein einsames Touristenpaar, die die gleiche Karte in der Hand halten. Am alten Stadthotel (heute Bibliothek) vorbei zur örtlichen Bank, die ebenfalls als Sehenswürdigkeit ausgewiesen ist (Steingravuren). Beide haben zu. Der Busbahnhof wurde vor hundert Jahren ausgebaut, seitdem müssen die Busse nicht mehr am Straßenrand halten, weil eine Ringstruktur das Wenden ermöglicht.
Eine enge Gasse (eng) zeigt sehr eindrucksvoll, dass im 17. Jahrhundert die Gassen ziemlich eng waren. Und wo heute der flache Quader des Coop-Supermarktes steht wurde früher Vieh gehandelt.
Will ich jetzt noch etwas in einem guten Café sitzen oder mir den letzten Punkt ansehen, das ehemalige Armenhaus? Ich mag gute Cafés, aber ich würde auch gern sehen, wie so ein Haus aussieht, seit ich mich tapfer durch Oliver Twist gelesen habe. Am Ende entscheide ich mich natürlich für die Bildung und die Kultur. Das Armenhaus ist sehr grau und einfach und heute die Krankenhausverwaltung.
Der Sinn des Ganzen
Wie immer versuche ich am Ende dann doch noch die zweite Option in den Zeitplan zu stopfen und sprinte unter unnötigem Stress zum Marktplatz, wo das GUSTO! schon lange zu hat. Na gut. Auf dem Bahnhof muss ich über eine Brücke gehen und bleibe dort oben ein wenig, weil man so einen netten Blick in das graue Tal hat.
Der Himmel und das Licht sind genau dieselben wie bei meiner Ankunft. Ziemlich im Wald ist der Ort. Auf der anderen Seite des Tals steht ein Schloss auf dem Berghang. Der Zug kommt fünf Minuten zu spät und fährt vorbei an Corbridge, mit seiner hübschen Brücke, sowie vielen anderen, kleinen, netten, irrelevanten Orten. Bis Newcastle falle ich in einen tiefen Schlaf.
Um acht zu Hause, doch ich bin zufrieden mit dem Tag, man hat etwas gemacht, etwas Neues gesehen, sich bewegt. Hanni hat gearbeitet, Paul hat geputzt. Ein weiterer Stein im Fluss der Zeit.
Die Pläne sind gemacht. Nächstes Wochenende bin ich in Stirling, am Wochenende danach sehe ich Glasgow.