Ein kurzer Rückblick auf eine bereichernde Zeit in Estland
Wer den Europäischen Freiwilligendienst absolviert hat oder gerade dabei ist, weiß wovon ich rede...
Mensch, muss das toll gewesen sein, zu wissen, was man nach dem Abitur machen möchte. Dachte ich jedenfalls. Im Nachhinein bin ich froh über meine Unsicherheit zu Abizeiten, denn sie hat mich in die Arme eines wunderbaren und völlig fremden Landes getrieben: Estland.
Estland war mir bis September 2011 noch völlig fremd und meine estnischen Sprachkünste hielten sich auch in Grenzen. Doch ich blieb tapfer. Angetrieben von der Motivation, mich im baltischen Ländchen mit den Einheimischen verständigen zu können, biss ich mich durch die 14 Fälle der Estnischen Grammatik. Irgendwann konnte ich dann meinen eigenen Namen im Estnischen deklinieren. Den eigenen Namen deklinieren? Ja, ganz genau. Es macht nämlich einen Unterschied, ob Lena sich im, vor oder auf dem Haus befindet, ob Lena in das Haus hineingeht oder aus dem Haus herauskommt. In 14 verschiedenen Fällen wird also auch der Name Lena verändert. Verwirrt?
Verzeihung!
Und dann war er plötzlich da: der Moment, in dem sich meine Freunde und Mitabiturienten um begehrte Studienplätze rissen. Und ich? Ich stand da und wusste, es geht nach Estland. Aber eine Bewerbungsphase durchlebte ich auch. Unzählige Wochen, unzählige Tage und Nächte durchforstete ich das Online-Portal der Europäischen Kommission nach Projekten, die mir zusagten. Spanien wäre schön. Skandinavien auch. Schnell merkte ich, dass nicht nur ich diese Orte als schön empfand. Ich blieb bescheiden und bewarb mich auch um Projekte in für viele eher unattraktiv wirkenden Ländern. Ja, in Estland sinkt die Temperatur nun einmal auch auf - 35 oder - 40 ° C im Winter und ja, die Sonne schaut auch nur kurz herein. Dunkelheit und Kälte. Und eine Sprache, die es nicht einfach macht, sich mit ihr anzufreunden, obwohl sie unheimlich schön klingt und praktisch gesungen wird.
Der Aufbruch in das - 35 ° C kalte Estland
Okay, zugegeben, bei meiner Ankunft herrschten mildere Temperaturen, doch der Winter ließ nicht lange auf sich warten. Schnee und klirrende Kälte. Und in Deutschland genossen die in Deutschland verbliebenen Freunde die letzten sommerlichen Herbsttage in T-Shirt und mit Eis auf der Hand. Aber genau das wollte ich. Etwas anderes. Dinge erleben, die Freunde und Familie daheim so ohne weiteres nicht erleben konnten. Und dazu gehörte natürlich auch die kulturelle Vielfalt. Sie war ein Gewinn, von dem ich noch heute, sieben oder acht Jahre danach, profitiere. Ein Gewinn, der nicht fassbar ist, wenn man ihn nicht erlebt hat. Kulturelle Vielfalt bekommt man doch auch daheim oder im Urlaub, mag der ein oder andere wohl denken. Es ist aber anders. Es treffen sich, zusammengewürfelt aus den verschiedensten europäischen Ländern, junge Menschen, die irgendwie alle in einer ähnlichen Phase stecken und eine kleine Abwechslung erleben möchten. Und alle wollen nicht nur sich selbst weiterbringen, sondern auch andere. Alle Freiwilligen haben in Projekten gearbeitet, die sie bewegten: Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Senioren. Die Projekte hatten alle einen anderen Schwerpunkt. Wenn wir uns als Gruppe trafen, kam sofort ein Gefühl von Herzlichkeit, Motivation, Freude und Freundschaft auf. Fast undefinierbar, wie man sich als Gruppe bestehend aus Spaniern, Franzosen, Armeniern, Österreichern, Deutschen, Russen, Ukrainern, Italienern, Slowaken, Schweden, Griechen so fühlt. Irgendwie europäisch. Und doch war es mehr als das. Zusammen haben wir etwas geschaffen, wofür andere Jahre oder Jahrzehnte benötigten. Als internationale Gruppe stellten wir Projekte auf die Beine und lernten immer wieder kulturelle Eigenarten des jeweils anderen kennen, ohne aber mit der Stirn zu runzeln. Es war normal, den anderen nicht zu verstehen. Es war normal, von bestimmten Sachen noch nie gehört zu haben. Es war normal, anders zu sein und anderes zu wollen. Es war normal, andere Lebensentwürfe zu haben und andere Träume zu leben. Dass jeder von uns anders als die anderen war, hatten wir gemeinsam. Und das war toll.
Und acht Jahre später?
Acht Jahre später stehen wir teilweise immer noch in Kontakt und erfreuen uns an der Erinnerung, die wir von einer bedeutsamen Zeit in Estland hatten. Die meisten der Freiwilligen, mit denen ich durch Projekte und Seminare in Estland über neun Monate in Kontakt stand, ha es nach dieser Zeit immer wieder ins Ausland gezogen. Mich hat dieses Jahr vor allem persönlich weitergebracht. Ja, man macht unglaublich viele Erfahrungen. Aber es geht noch weiter: Die wirklich Bedeutung von einer länderübergreifenden Vernetzung bekommt man in so einer Zeit besonders stark zu spüren. Sie ist unglaublich bereichernd, weil aus ihr viele neue Ideen entstehen können.