Ein falscher Freund kommt selten allein
Coni, die Protagonistin der Kurzgeschichte bemerkt langsam, wer ihr ein Messer in den Rücken sticht und wer wirklich solidarisch ist.
Im Klassenzimmer der 8b war eine große Unruhe vorzuweisen. Die letzte Unterrichtsstunde stand an und die Schüler und Schülerinnen machten sich keine Mühe, ihre Müdigkeit auch nur annähernd zu verbergen. Putzfetzen flogen durch den Raum, Neuigkeiten wurden ausgetauscht und Handyspiele wurden gespielt. All dies verschwamm langsam in einen scharrenden Laut, welcher jedoch niemand zu stören schien. Die einzigen Personen, welchen kein solcher Lärm zuzuordnen war, befanden sich am linken Ende der dritten Reihe. Es waren vier Mädchen, zwei mit blondem und zwei mit braunem Haar. Drei dieser Jugendlichen saßen schnellschreibend auf ihren Plätzen, mit den Blicken nach Unten gerichtet, immer wieder von einem in der Mitte platzierten Blatt Papier zurück zu ihrem wandernd. Es war nicht schwer zu erkennen, dass sie dabei waren eine Hausaufgabe abzuschreiben. Vertieft in ihre Arbeit merken sie nicht, wie die Augen der Blonden ganz rechts plötzlich glasig wurden und ihr Kopf rot. Doch bevor es jemand bemerkte, blinzelte das Mädchen die aufkommenden Tränen schnell hinweg. Die Klingel ertönte und es wurde langsam still. In der zweiten Reihe wurde geflüstert und gekichert, doch war es leise genug, um die schnellen Schritte des Lehrers am Flur zu vernehmen. In den Klassenraum trat ein junger Mann, welcher eine Brille trug, rötliches Haar besaß und die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt hatte. So begann die Stunde und der Lehrer rief nach der Reihe die Namen aller Kinder auf. „Coni Tin?“ Am anderen Ende des Raumes hob die zuvor weinerliche Schülerin die Hand und gab ein leises „Ja“ von sich. Einige Mädchen begannen zu tuscheln und warfen ihr vereinzelt abwertende Blicke zu. Coni lies das alles über sich ergehen und versuchte, sie nicht zu beachten. Als dann eine Partnerarbeit angeordnet wurde, begannen die Mitschülerinnen der Blonden aufgeregt zu tratschen und gaben sich keinerlei Mühe, dies geheim zu halten. Auch wenn die Schülerin noch so sehr versuchte, den Lästereien keine Beachtung zu schenken, scheiterte sie nun endgültig daran. „Oh Gott Coni regt mich so auf! Sie zwingt mich, nur mit ihr zu reden. Ich hasse sie!“, äußerte sich jemand mit dunklem Haar, Brille und rotem Pullover. Es traf die Außenstehende wie ein Messer ins Herz. Ein Gefühl von Trauer, Wut, und Hilflosigkeit breitete sich in ihr so plötzlich aus, als hätte jemand kochend heißes Wasser über ihren Kopf geleert. Die Person, aus dessen Mund die verletzenden Worte kamen, war Conis ehemalig beste Freundin Amira. Die Zwei waren unzertrennlich gewesen, doch von einem Tag auf den Nächsten war dem nicht mehr so. Amira sprach nicht mehr mit ihr, ignorierte sie und tauschte die andere binnen weniger Tage gegen eine neue, „bessere“ Freundin aus. Beide hatten seit Wochen kein Wort mehr gewechselt, auch wenn Coni versucht hatte, den Zerfall der Freundschaft zu verhindern.
Monate zuvor war die nun Alleingelassene immer bei nahezu jedermann beliebt gewesen und hatte viele Freunde. Immer schon hatten ihre damaligen Kameradinnen andere Mitschülerinnen schikaniert und heruntergemacht, was sie damals allerdings als belustigend empfand. Niemals hätte das Mädchen gedacht, wie schnell das Blatt sich wenden konnte.
Mit einem Schlag wurde die Jugendliche aus ihren Gedanken gerissen. Der Lehrer schlenderte zwischen den Tischen umher, um die Arbeiten der Gymnasiasten zu begutachten. Die Augen der Schülerin waren auf ihre Gruppenmitglieder gerichtet, welche sich mit den Gedanken wohl ebenfalls weit von dieser Welt entfernt zu befinden schienen. Mit gesenktem Kopf und ohne Einwände hörte sie nur zu, als die Lehrperson verkündete, ihnen allen ein Nicht Genügend auf die Arbeit eingetragen zu haben. Unter anderen Umständen hätte die Blonde rebelliert, doch gerade fehlte ihr jegliche Kraft dazu. Nachdem die Klingel endlich zu hören war, strömte die Klasse hastig aus dem Raum.
Erneut gedankenversunken verließ nun auch die Jugendliche allein das Zimmer. Vor ihr die Clique, die Lügen über sie erzählt, hinter ihrem Rücken redete und ihr eine perfekte Freundschaft vorgetäuscht hatte.
Was passiert jetzt mit den Abenteuern, die sie erlebt hatten? Wohin mit den Kinobesuchen, den langen Sommertagen und all den schönen Erinnerungen?
Niemals wäre es möglich, auch nur eines dieser unzähligen Erlebnisse zu vergessen oder gar ungeschehen zu machen. Tief in ihrem Inneren hatte das Mädchen immer gewusst, welch schlimme Dinge sie anderen zumuteten, doch aufgrund dieser Momente keine Initiative ergriffen.
Die Wut brannte lichterloh in ihr, wie ein Feuer.
Die Trauer ballte sich in ihrem Hals, wie ein Kloß.
Die Emotionen in Coni versuchten verzweifelt aus ihr auszubrechen und hatten nun endlich ihr Ziel erreicht. In den nächsten Sekunden nahm die Schülerin alles nur sehr wage wahr. Sie sackte am Rande der Stiegen in sich zusammen und kauerte nun am Boden, das Gesicht in den auf den Knien verschränkten Armen versteckt. Durch das Schluchzen der Weinenden vernahm sie nicht, wie sich jemand neben ihr niederließ. Die Person klopfte ihr sanft mit der Hand auf die Schulter, woraufhin die Aufgewühlte hochfuhr. „Es wird alles gut, ok?“, fragte das Mädchen.
Es war Tati, welche bereits seit Kindertagen mit der Schülerin befreundet war. „Falls es um diese Zicken geht, lass dich nicht runtermachen. Die sind nicht solidarisch dir gegenüber“, meinte sie.
Coni blickte ihr in die Augen und bemerkte, wie falsch sie die ganze Zeit über gelegen hatte.
Die Hellhaarige war nicht allein. Tati war immer an ihrer Seite gewesen, egal wie schlecht es ihr ging. Es spielte keine Rolle, wie stark die Zwei gestritten hatten, Tati hatte sie niemals im Stich gelassen.
Sie war es, die wirklich solidarisch war.
„Es ist nicht leicht, ich weiß, aber vielleicht kann ich dir ja trotzdem ein wenig helfen?“
Die Mundwinkel der Jugendlichen schoben sich nach oben und sie streckte ihre Arme aus, um das Mädchen an sich zu drücken.
„Danke“, flüsterte Coni und aus Tränen wurden Freudentränen.