"Du hast dein Leben selbst in der Hand."
Von Mutmachern, von Grenzen, vom Grenzenüberschreiten und ein wenig auch von Jugendlichen, die das Vertrauen in das Bildungssystem ihres Landes verloren haben.
Wie wir auf das Thema gekommen waren, das weiß ich schon gar nicht mehr. Wir saßen im Hip Hop-Kurs in dem Jugendzentrum, indem eine Freundin ihren Freiwilligendienst macht, eigentlich war nur Trinkpause, anfangs verstand ich von der Unterhaltung gar nicht viel. "Pero España es una mierda", warf ein Mädchen plötzlich aufgebracht ein - Spanien ist doch scheiße, wortwörtlich übersetzt. Als EVSler wird man dann ja doch hellhörig, wären wir derselben Meinung, hätten wir uns wohl kaum dafür entschieden, für unser Freiwilligenjahr hierherzukommen. Zehn erwartungsvolle Augenblicke lagen auf unserem Trainer, den das Mädchen gerade unterbrochen hatte. "Sí, España es una mierda", bestätigte dieser beinahe gleichgültig und fügte hinzu, dass das Bildungssystem nicht ausreichend sei. Das hieße aber noch lange nicht, dass sie deshalb ihre Zukunft nicht selbst in der Hand hätten - und das hieße schon gar nicht, dass diese Jugendlichen vor ihm nicht dennoch großes Glück gehabt hätten.
Jeder von ihnen könnte seinen eigenen Weg gehen, sagte er bestimmt, unabhängig davon, woher ihre Familien kämen oder in welchem Land sie geboren wurden. "Meine Eltern haben eine große Firma", warf ein Vierzehnjähriger spöttisch grinsend und doch stolz ein, "Die bringen da Menschen um oder so etwas." Von einigen erntete er noch Lacher, die anderen waren inzwischen ruhig geworden. "Du möchtest Psychologie studieren, oder?", hatte unser Trainer vorher zu einem Mädchen mit orange gefärbten Haaren und Harry Potter-Tattoo gesagt. Was er hinzufügte, als sie nickte, kann ich nicht wortwörtlich übersetzen. Sie habe in diesem Land die Chance dazu, das zu studieren, was sie möchte, sie müsste aber jetzt etwas dafür tun, diesen Studiengang auch zu bekommen. Danach wandte er sich dem Jungen zu und sagte, "Du musst aber noch lange nicht das nachahmen, was deine Eltern dir vorleben."
Was sich da in den letzten drei Minuten unseres Hip Hop-Kurses zusammenbraute, hatte mit Tanzen nichts zu tun - könnte für diese Jugendliche aber wichtiger sein als jede Choreografie. Das Viertel von Madrid, indem das Jugendzentrum steht, ist bekannt dafür, zu den unsichereren Vierteln von Madrid zu gehören, Ziel des Jugendzentrums ist es nicht zuletzt, Jugendlichen Beschäftigungsmöglichkeiten zu geben, einen sicheren Ort zu schaffen, sie vielleicht auch einfach von den Straßen zu holen. Als ich erzählte, dass ich aus Deutschland käme, wurde ich einmal gefragt, ob ich dann Russisch sprechen könnte, ein anderes Mal erfuhr ich überrascht, dass man in Deutschland und Polen angeblich dieselbe Sprache sprechen würde. Die Mädchen sind zwischen 14 und 20 Jahren alt, da wird über Jungs und Feiern geredet und doch tritt plötzlich Stille ein, wenn es um das erhoffte Psychologiestudium geht.
Dass unser Trainer hier Vorbildfunktion hat, lässt sich nicht leugnen: tätowiert, mit Stil, beinahe knielangem Karohemd, schwarzen Röhrenjeans und Ohrringen, wirklichem Talent und nicht zuletzt Humor. Wie er hier von einem Thema auf das andere kam, das konnte ich gar nicht ganz verstehen, aber ich verstand, worum es ging. Er erzählte davon, wie er zuvor gesagt hatte, dass es keinen Sinn machte, einen Hip Hop-Kurs auf einen Freitag zu legen, weil niemand kommen würde, und er nun entgegen aller Erwartungen vor knapp zehn Jugendlichen stand, davon, wie seine Eltern aus Venezuela kamen und ihre Studiengänge hier nicht anerkannt wurden, sodass sie ihr Leben lang als Putzkräfte arbeiteten, davon, dass er das Gefühl hat, dass gerade junge Mädchen sich heute gerne älter darstellten, als sie eigentlich seien, und wir doch die Jugend genießen sollten, davon, wie er es früher blöd fand, seine Wäsche als Junge selber zu bügeln und er heute lieber seine Hemden selbst bügelt, als mit ungebügeltem Hemd aus dem Haus zu gehen, davon, wie viel wir uns von unseren Eltern abschauen und wie wir doch die Kraft dazu haben, unseren eigenen Weg zu gehen - angefangen von Beziehungen über Lebensentscheidungen bis zum Studium.
Und er spricht von anderen Ländern, davon, dass es in Europa auch Länder gibt, in denen die Jugendarbeitslosigkeit nicht jeden Zweiten betrifft. Da sind Moment, in denen man als Deutsche schlucken muss und nicht anders als wegschauen kann. Aber auch davon, dass in seinem Herkunftsländer Drogen mit so einer Leichtigkeit auf der Straße verkauft werden, dass sie schon die jüngsten Kinder schnell verführen. Irgendwann kommt der Wachmann des Jugendzentrums in den Raum, um 20:30 schließt das Zentrum, dann müssen wir auch den Raum verlassen. Als ich in die Runde schaue, ist Ruhe eingekehrt, vermutlich sind alle mit den Gedanken bei ihren Plänen, ihrer eigenen Zukunft, Dingen, die sie vielleicht gerne in ihrem Leben verändern würden. Wir sprechen hier nicht viel über Zukunft, über Studieren oder über Karriere, noch verstehe ich sowieso nicht viel von dem, was die Mädchen untereinander reden, aber wenn es um Schule geht, bekommt man die Frustration öfters zu spüren. "Educación en España es un lío", hört man hier öfter - das spanische Bildungssystem ist ein Chaos. In diesem Moment fühlte ich aber auch, wie viel gerade diesen Jugendlichen die Geschichte von jemanden, der sich durchkämpfen musste und es trotz seiner Herkunft geschafft hat, bedeutet.
"Wow, das war ja mal eine Tanzstunde", muss unser Trainer selbst zugeben, während wir uns verabschieden. "Aber da haben wir doch mal gut geredet."