DoraOnTour!
Auf den Spuren des Kreisauer-Kreises und den damaligen Evangelen Niederschlesiens.
Heute bin seit über drei Wochen hier in Polen und langsam fange ich an, mich zuhause zu fühlen. Vielleicht auch, weil echt viel passiert ist letzte Woche und davon fast nur Schönes oder Aufregendes. Hier nur ein Beispiel:
Diese Woche durfte ich die gute Seite am Spontansein der Polen genießen. Da wir in einem Hotel wohnen, gibt es dort öfter Reisegruppen, die einen Ausflug zu Sehenwürdigkeiten in der Umgebung unternehmen. Diesen Donnerstag zog es eine Gruppe nach Kreisau und zur Schweidnitzer Kirche und wir durften mit. Danke Maryna! Wem Kreisau nichts sagt: Dies ist der Ort, an dem sich der "Kreisauer Kreis" traf, einer der wenigen Widerstandsgruppen zu den Zeiten des Nationalsozialismus. Damals war dieser Ort noch deutsches Gebiet. Die Gruppe traf sich allerdings nicht, um Hitler zu stürzen, sondern um Richtlinien für eine Demokratische Gesellschaft und Politik nach Hitler zu verfassen und ihre Gedanken und Meinungen für eine bessere Zukunft einzusetzen. Warum sie ihn nicht stürzen wollten? Das Töten einer Person, also das in Kauf nehmen eines Übels, um die Deutschen von Hitler zu befreien, wäre für sie nicht moralisch vertretbar gewesen. Wobei man dazu sagen muss, dass sich später einige Mitglieder bei einem Attentat auf Hitler beteiligten und ihre Meinung somit änderten. Jedenfalls gestaltete die Gruppe eine sehr aktuelle Vorstellung des Zusammenlebens wie wir sie heute in Europa haben (oder haben sollten); Menschen, die ihre Individualität ausleben können und die des anderen aushalten sollten und das im Frieden miteinander. Das Besondere an dieser Gruppe war auch, dass die Mitglieder aus unterschiedlichen Ständen kamen. Es waren Adelige, aber eben auch Arbeiter vertreten. Sie hatten unterschiedliche Ansichten, verstanden es aber, miteinander zu diskutieren und zu einem konstruktiven Kompromiss zu gelangen. Heute ist Kreisau, auf Wunsch von Frau Moltke (eine der Mitglieder und Frau des Bekannten Herrn Moltke, welchem das Anwesen in Kreisau gehörte und welcher ein wichtiges und sehr bekanntes Mitglied des Kreisauer Kreises ist) eine Jugendbegegnungsstätte geworden, vor allem zwischen Deutschen und Polen. Hier treffen Jugendliche aus verschiedenen Ländern zusammen, um über Europa und Völkerverständigung nachzudenken und Projekte zu diesem Thema durchzuführen. Unsere Gruppe besuchte eine sehr interessante Ausstellung über den Widerstand im Nationalsozialismus und im Kommunismus sowie eine Ausstellung über den zweiten Weltkrieg. Es lohnt sich wirklich, diesen Ort mal zu besuchen!
All dies brachte Mattis und mich zum nachdenken. Wir beide hatten diesen Freiwilligendienst nicht nur gewählt, um nicht sofort studieren zu müssen. Uns beiden ist es wichtig, etwas Gutes für andere zu tun und mehr und mehr herauszufinden, wo unser Platz auf dieser Welt ist und welche Prioritäten wir in unserem Leben setzen werden. Die Widerstandsgruppe beeindruckte uns beide sehr. Ich erzählte ihm, dass ich mich manchmal frage, ob meine Kinder mich später mal fragen werden: "Wo warst Du denn damals in der Flüchtlingskrise, wo tausende Menschen ertrunken sind und der Fremdenhass zunahm? Was hast Du getan? Oder hast Du nur zugesehen?" Wir sind heute so gut informiert über die schrecklichen Dinge, die um uns herum passieren und sehen dabei zu, wie Menschen fliehen, verhungern, sterben... Keine Frage, man kann nicht jeden retten. Aber Mattis brachte zu dieser Aussage ein wundervolles Zitat von seiner ehemaligen Pastorin: "Ein kleines Licht mag unscheinbar und machtlos sein, doch viele kleine Lichter besiegen die Finsternis." Tu wenigstens etwas kleines, auch, wenn es nur ein kleiner Spendenbetrag ist oder eine Stunde ehrenamtliche Arbeit. Dein kleines Licht zählt!
Weiter ging es zur Schweidnitzer Kirche. Warum wir extra in einem gemieteten Bus zu einer einzigen Kirche fahren, wo es in Breslau allein über hundert Stück davon gibt und davon eine schöner als die andere? Nun, diese Kirche ist eine der wenigen...die nicht katholisch ist, sondern evangelisch. Immer noch nicht besonders genug? Nun, sie wurde in nur einem Jahr gebaut. Wie bitte?! Ja, ihr habt richtig gelesen und das ist noch nicht alles. Sie besteht KOMPLETT aus Holz. Und etwas Lehm und Stroh. Ihr versteht jetzt gar nichts mehr? Das kann ich euch nicht übel nehmen. Ich wusste von der Existenz dieses Weltkulturerbes auch erst, seitdem ich hier in Polen bin. Bleibt immer noch die Frage: Warum haben die Architekten damals das gerade so gemacht? Die Antwort ist: Weil sie mussten. Evangelen haben es nicht so leicht gehabt damals. Sie konnten froh sein, überhaupt eine Kirche bauen zu dürfen. Und damit sie auf keinen Fall eine katholische Kirche übertrumpfen könnte, musste sie: außerhalb der Stadtmauern stehen (also ungeschützt vor Angriffen), durfte keinen Turm und keine Glocken besitzen (Symbole für Einfluss und Macht), sollte von außen aussehen wie ein Stall, musste in einem Jahr gebaut werden und durfte eben nur aus Stroh, Lehm und Holz bestehen. Wie soll das denn gehen? Das ist doch unmöglich! Nein, nicht für die unglaublich gläubigen und leidenschaftlichen Evangelen, die diese wundervolle Kirche sogar in weniger als einem Jahr fertig stellten. Von außen im Stil eines Fachwerkhauses, erinnert die Kirche tatsächlich ein wenig an einen Bauernhof. Die Kirche kommt einerseits sehr schlicht daher, ist andererseits trotzdem ein Blickfang, durch die zahlreichen geometrischen Körper fasziniert sie ihren Betrachter zwangsweise. Es scheint, als könnten sich die einzelnen Elemente der Kirche jederzeit verschieben und eine neue Form annehmen. Selten war ich so begeistert von Architektur.
Mattis und ich erwarteten, dass es drinnen ähnlich zurückhaltend gestaltet war. Pustekuchen. Aus Trotz und Provokation hatte man diese Kirche so prunkvoll und atemberaubend eingerichtet, dass Mattis und mir der Mund offen stand und wir ihn einfach nicht mehr zu bekamen. Seht selbst auf den Bildern. Und lasst euch nicht täuschen; auch innerhalb der Kirche besteht alles aus Holz! Ich war gerührt und fühlte eine tiefe Bewunderung für die Evangelen, die sich für diese Kirche eingesetzt hatten. Jedes Mitglied der Gemeinschaft hatte etwas dazugegeben für den Bau, egal wie viel er hatte, jeder brachte sich ein. Wie groß muss ihr Glaube gewesen sein, dass sie trotz dieser vielen Hürden eine Kirche erbauten, ihr Hab und Gut dafür gaben, obwohl sie nicht wussten, ob das Wetter mitspielt, sie genug Baumaterial haben, ob sie überhaupt rechtzeitig fertig werden würden? Ein feindlicher Angriff, ein Funke, die Kirche würde hoffnungslos niederbrennen. Wie durch ein Wunder überlebte sie bis heute. Wenn ich so etwas höre, schäme ich mich dafür, dass ich den Gottesdienst nicht so oft besuche, um Gottes Wort zu hören. Schon allein meine Müdigkeit am Morgen sah ich als ausreichenden Grund, nicht zum Gottesdienst zu erscheinen, während diese Leute alles was sie hatten dafür gaben, um eine eigene Kirche besuchen zu können und Gott zu loben, trotz aller Schwierigkeiten, die ihnen auferlegt wurden. Einfach nur bewundernswert.
Mit vielen neuen Eindrücken und Denkanstoßen kam ich zurück in unsere Freiwilligenwohnung und war sehr dankbar. Dankbar dafür, dass wir es heute wesentlich leichter haben als damals. Dankbar für diesen Tag und meinen Dienst. Wirklich schön, dass es Dich gibt, Europa!