Die zwei Seiten des Lebens in Santiago
Die zweite Seite Santiagos, die soziale Ungleichheit, übersieht man auf den ersten Blick leicht. Doch ist sie in Chile sehr präsent und der Grund für viele Probleme im Land.
Seit knapp drei Monaten lebe ich jetzt in Santiago de Chile. In der Tagesschau des Ersten Programms wurde Chile diese Woche „Die Schweiz Lateinamerikas genannt“. Die Landschaft in Chile ist, vor allem, wenn man Berge mag, wunderschön. Auch ist Chile das teuerste Land in Lateinamerika.
Im Großraum Santiago wohnt etwa die Hälfte der chilenischen Bevölkerung. Viele kommen hierher um zu arbeiten oder zu studieren. Ich erlebe das Leben in Santiago als angenehm. Das U-Bahn-Netz funktioniert gut, die Leute sind sehr freundlich und hilfsbereit und das Kultur- und Freizeitangebot ist sehr vielfältig. Die Metropole ist von wunderschönen Bergen umgeben. Doch erklimmt man einen davon, kann man eines der Umweltprobleme der Stadt mit eigenen Augen sehen. Über Santiago hängt meist eine braune Smog Wolke. Die Luft in Santiago gilt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation als eine der schlechtesten weltweit. Das ist unter anderem mit der Kessellage der Stadt zu begründen, aber auch mit der hohen Verkehrsbelastung, den zahlreichen Fabrikanlagen und Kraftwerken. Weitere Probleme in Santiago stellen die übermäßige Verschmutzung der Flüsse da und eine unzureichende Struktur der Abfallbeseitigung. Vor allem Letzteres kann man in ärmeren und benachteiligteren Vierteln der Stadt deutlich sehen.
Ein weiteres Problem, das das Leben in Santiago prägt, ist die soziale Ungleichheit. Die Familie bei der ich als Aupair lebe, wohnt in Las Condes, einem der wohlhabendsten Viertel der Stadt. Die Kinder gehen auf eine der besten Schulen in Santiago und abgesehen von einem Aupair hat die Familie eine „Nana“, die sich um den Haushalt kümmert. Sobald ich erzähle, dass ich in Las Condes lebe, bekomme ich zur Antwort: „Oh, dann ist die Familie, bei der du wohnst, reich.“ Wer auf der anderen Seite der Stadt, zum Beispiel in La Pintana lebt, der steht auch auf der anderen Seite der Kluft zwischen Arm und Reich. Chile gehört zu den Ländern in denen diese Kluft am tiefsten ist. Ein Prozent der Bevölkerung (rund 180.000 Personen) erzielen rund 33 Prozent der gesamten Einkünfte. 0,1 Prozent der Superreichen vereinen 19,5 Prozent des Gesamteinkommens auf sich. Das entspricht einem Durchschnittseinkommen von fast 150.000 Euro monatlich.
Die Kluft wird auch im Bildungssystem sichtbar. In den zum großen Teil unterfinanzierten städtischen Schulen konzentrieren sich 70 Prozent der ärmsten Schüler des Landes. Wer es sich irgendwie leisten kann, meldet den Nachwuchs in privaten Bildungseinrichtungen an. Familien mit Geld schicken ihre Kinder auf die besseren Privatschulen. Diese Kinder werden später mal gute Chancen in der Berufswelt haben, während die Kinder der ärmeren Familien wohl in die Fußstapfen der Eltern treten werden. Armut ist also in gewisser Weise vererbbar.
Viele der Menschen, die in den ärmeren Vierteln leben, arbeiten in den wohlhabenderen Vierteln, zum Beispiel als „Nana“. Sie durchqueren also täglich die ganze Stadt um zur Arbeit zu gelangen. Da das gut funktionierende U-Bahn-Netzwerk nicht bis in diese Viertel reicht, müssen sie auf Busse zurückgreifen und so kann der Weg zur Arbeit in der Rush-Hour schon mal 3 Stunden oder länger dauern.
Zu Beginn meiner Zeit hier in Santiago empfand ich die Angst der Leute vor Diebstählen übertrieben. Denn die Stadt machte auf mich einen sehr sicheren Eindruck und alle meine Begegnungen waren von Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft geprägt. Doch wird in Santiago tatsächlich viel gestohlen. Bei der sozialen Ungleichheit die hier herrscht, keine Überraschung. Wie viel oder wenig man Diebstähle fürchten muss, kommt darauf an, wo man sich befinden, wie viel Polizeipräsenz und andere Sicherheitsvorkehrungen es dort gibt.
Ein weiteres Privileg, das der wohlhabenden Bevölkerung vorbehalten ist, ist das Gesundheitssystem. Wer arbeitet, ist versichert, wer Geld hat, kann sich gute midizinische Versorgung leisten. Doch viele Leute der ärmeren Gesellschaft in Chile können sich im Krankheitsfall weder Doktor noch Medikamente oder die notwendige Behandlung leisten. Viele nehmen also notgedrungen hohe gesundheitliche Risiken in Kauf oder verschulden sich.
Santiago hat also mindestens zwei Seiten. Die zweite Seite übersieht man als Durchreisender leicht. Die Wahl des letzten Sonntag gewählte konservative Präsident Piñera stellt einen Rechtsruck in dem Land dar, dass die letzten Jahre von einer linksgerichteten Partei regiert wurde. Piñera ist mehrfacher Milliadär. In seinen Wahlversprechen kündigt er an, sich um alle Chilenen zu kümmern und setzt sich zum Ziel die Kluft zwischen Arm und Reich zu verkleinern. Darum gilt er für viele Chilenen als Hoffnungsträger für eine fairere und sicherere Zukunft.