Die Türkei heute
In der Türkei ist Geschichte omnipräsent - Atatürk als Gründer der Nation, die vergangene Kriege werden immer noch zelebriert und alte Helden leben in unzähligen Statuen weiter. Diese Nostalgie lässt fast die aktuelle Situation vergessen – Aber kann man wirklich mit diesem geschichtlichen Ansatz über die gegenwärtige Politik hinwegtäuschen?
Was mich in der Türkei irritiert, ist die ständige Glorifizierung der eigenen Geschichte – Aber vielleicht ist man da als Deutscher auch einfach etwas vorsichtiger.. Am Montag jährt sich die Schlacht von Cannakkale, was mit großem Aufwand gefeiert wird: In unserem Jugendzentrum wird ein Theaterstück aufgeführt, ein Chor probt schon seit Wochen und im Einkaufzentrum befindet sich eine kleine Ausstellung zu der Schlacht und ihrer Helden. Und irgendwie stecke auch ich da drin, schließlich haben Deutsche und Osmanen im ersten Weltkrieg als Mittelmächte zusammen gekämpft - Was mir gegenüber oft betont wird.
Dabei befindet sich die Türkei in einem Staatsumbruch, und wofür der gescheiterte Putsch-Versuch 2016 als Katalysator diente. Die Zahlen zu lesen, was sich seitdem in der Türkei verändert hat, erschreckt ungemein: Über 50.000 Personen wurden verhaftet, über 350 NGOs geschlossen und 150 Medien verboten. Auch das Schul- und Universitätssystem wurde stark auf Linie gebracht, was konkret bedeutet, dass Lehrer*innen und Professor*innen die nicht der nationalen Doktrin folgen oder gar politisch aktiv sind, entlassen wurden. Die Justiz kann man kaum noch als unabhängig betrachten, so eng ist sie mit der Regierung verbunden. Nach außen hin geht die türkische Regierung auf Konfrontationskurs und innerpolitisch schafft sie eine Atmosphäre der Angst: Der Politikwissenschaftler Burak Copur sieht darin eine "kontinuierliche Institutionalisierung eines autokratischen Herrschaftssystems und der Etablierung eines neo-osmanischen orientierten sunnitisch-nationalistischen Staatsnarrativs."
Diese Entwicklung spüre ich deutlich in meinem Alltag aber auch in meiner täglichen Arbeit: In meinem Jugendzentrum in Gaziantep, im Süden der Türkei, treffen sehr konservative Jugendliche und modern-liberal denkende zusammen. Während die eher traditionell-konservativen ihre Chancen durch parteiliches Engagement nutzen, sind die anderen eher verzweifelt: Jeden Tag kommen Gespräche auf, wie die Jugendlichen irgendwie ins Ausland kommen können, sie wollen irgendwo hin, einfach nur raus. Denn eine alternative politische Meinung zu haben ist nicht einfach, nicht konform zu sein kann einem das Leben schwer machen. Deshalb leidet das Land aktuell unter einem starken Brain Drain: Während renommierte Wissenschaftler*innen gefeuert bis sogar inhaftiert werden, durchziehen religiöse Doktrinen die wissenschaftliche Lehre und senken damit ihre Qualität, in PISA-Studien schneiden türkische Schüler*innen immer schlechter ab und auch der akademische Austausch leidet: Immer weniger Erasmusstudenten wollen aufgrund der Sicherheitslage in die Türkei und somit wird auch die europäische Vernetzung unter Studenten eingeschränkt.
Was für mich als deutschen Freiwilligen natürlich günstig ist, ist für die türkische Bevölkerung umso schlechter: Der Lira sinkt täglich. Und das, obwohl die türkische Wirtschaft wächst - Somit bildet sich eine Wirtschaftsblase, die früher oder später platzen muss. Die Produktion in der Türkei ist nach wie vor schlecht und ineffizient und auch die Investionslage ist wenig einladend.
Die Gesellschaft ist stark gespalten zwischen den Parteien, zwischen Konservativen und Modernen, zwischen Fussballclubs und den Himmelsrichtungen. Der Status von Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier verschlechtert sich zunehmend, genauso wie der sexuelle oder religiöse Minderheiten. Mittlerweile ist es sogar unter hoher Geldstrafe verboten, Begriffe wie "Kurdistan" oder "Völkermord an den Armeniern" im Parlament zu verwenden. Ironischerweise sind aber auch die meisten gewählten Abgeordnete, die diese Thematiken ansprechen würde bereits im Gefängnis.
Viele junge Erwachsene, mit denen ich darüber sprechen kann, sind sehr besorgt und wissen noch nicht, wie sie sich in dieser Gesellschaft einordnen möchten. Auszuwandern ist für viele eine Option, die Aussicht darauf ist aber eher gering. Würde die türkische Gesellschaft vielleicht weniger die Vergangenheit glorifizieren, mehr die Gegenwart realisieren und an ihrer Zukunft arbeiten, könnte man diesen Jugendlichen ein selbstbestimmtes Leben in der Türkei ermöglichen.
Zur weiteren Lektüre: https://www.welt.de/politik/ausland/article168883966/Erdogan-laufen-die-schlauesten-Koepfe-weg.html
https://kurdische-gemeinde.de/die-tuerkei-steht-vor-einer-ungewissen-zukunft