Die Kunst, ein stiller Held zu sein
Was ist Solidarität? Auf der Suche nach Antworten beschäftige ich mich mit Donald Trump, einer älteren Französin und viralen Internettrends.
Solidaritätsboni, Solidaritätsbeiträge, Solidaritätszuschläge: So omnipräsent ist das Wort „Solidarität“ in der deutschen (Amts-) Sprache, dass man gar nicht mehr wirklich über dessen Bedeutung nachdenkt. Aber was ist denn wirklich Solidarität?
Wenn ich an Solidarität denke, denke ich vor allem an Menschen, die ihre Solidarität mit anderen Menschen in Kriegsländern betonen, zum Beispiel mit Hashtags wie PrayforParis. Ist diese Form des „Mitleid(en)s“ das, was Solidarität ausmacht? Unterstützt man Menschen damit, wenn man Kettenbriefe weitersendet oder ein paar Zeilen auf Instagram schreibt, oder ist es nur eine Form der Selbstdarstellung, der Versuch, als „guter Mensch“ dazustehen? Aber es gibt auch (positive) Ausnahmen bei den vielen viralen Trends im Internet: Der Hashtag Metoo hat eine regelrechte Solidaritätswelle ausgelöst: Er hat nicht nur ans Licht gebracht, wie groß die Zahl der Opfer sexuellen Missbrauchs wirklich ist. Man konnte auch etwas Trost in der Feststellung finden, dass es Millionen von Menschen auf der Welt genauso geht oder gegangen ist. Und die Bewegung hat zu einer Destigmatisierung von sexueller Gewalt beigetragen, die so lange ein Tabuthema war. Manchmal kann es also schon reichen, wenn man Menschen zeigt, dass sie nicht alleine sind.
Andere Fälle zeigen jedoch, dass Solidarität alleine oft nicht genug ist: Obwohl beispielsweise 2018 ein erfolgreiches Jahr für Dunkelhäutige war, unter anderem wegen Kinohits wie Black Panther oder Beyoncé als erster dunkelhäutiger Sängerin als „main act“ auf der Coachella-Bühne, geht die Diskriminierung unverändert weiter: Polizeigewalt gegen unbewaffnete Jugendliche oder die ungerechte Behandlung am Arbeitsplatz; trotz der Bewegung BlackLivesMatter hat sich die Lebenssituation der meisten Dunkelhäutigen in den USA nicht verbessert. Es scheint eben wichtigere Dinge für Donald Trump zu geben. Wer will sich schon für die Rechte von Minderheiten einsetzen, wenn man auch einfach Golf spielen oder stundenlang Fox News schauen könnte? Wenn die Regierung nichts macht, bleibt es also am Ende doch an jedem einzelnen von uns hängen. Aber wer hat schon die Motivation dazu, alle zu unterstützen, die gerade in irgendeiner Form diskriminiert werden oder in anderer Weise benachteiligt sind? Ist nicht die alljährliche Spende an UNICEF genug, um für ein gutes Gewissen zu sorgen? Viele Menschen zeigen ihre Solidarität in letzter Zeit mit Gruppen wie Pegida oder dem Front National, bei denen das Solidaritätsgefühl eine große Rolle spielt. Man vereint sich im Kampf gegen die anderen, die Bösen, die dafür sorgen, dass es einem schlecht geht. Ich habe letzten Sommer bei einer netten älteren Dame in Montpellier gewohnt, die mit einer sehr kleinen Rente leben muss. Wir haben uns sehr gut unterhalten, bis wir auf das Thema Politik gekommen sind. Die Frau ist eine flammende Unterstützerin von Marine Le Pen, weil sie das Gefühl hat, dass Frankreich von Ausländern überrannt wird, die mehr Unterstützung bekommen als sie, obwohl sie weniger dafür getan haben. Ich wusste nicht so richtig, wie ich damit umgehen soll. Auch wenn ich es vermeiden wollte, habe ich sie nach diesem Erlebnis immer in einem anderen Licht gesehen. Solche Fälle zeigen, dass es eben doch nicht alles schwarz und weiß ist. Und dass ich zwar viel über meine Vision von einer solidarischeren Welt schreiben kann, mit der Umsetzung aber auch meine Probleme habe.
Ist unsere Bequemlichkeit der Grund, warum wir so wenig hilfsbereit sind, wenn es um Menschen geht, die nicht genau wie wir sind? Wollen wir uns nur mit Unseresgleichen umgeben? Oder ist Solidarität mit der Zeit einfach aus der Mode gegangen? Ist es in der postmodernen Gesellschaft die Vereinzelung, die alle Bereiche des Lebens dominiert und dafür sorgt, dass wir uns voneinander entfernen? Laut einem Paarforscher könnten in 100 Jahren die Hälfte der Deutschen Singles sein. Aber nicht das Alleinsein ist das Hauptproblem, sondern die Einstellung, dass man alles alleine schaffen kann und die Annahme, dass es bei seinen Mitmenschen genauso sein muss. Immer mehr Menschen legen sehr viel Wert auf ihren eigenen Erfolg, sind geprägt von dem Ziel, sich selbst zu verwirklichen, und helfen anderen nur, wenn es für sie einen Mehrwert bringt. Selbsthilfe und Selbstliebe sind ja an sich nichts Schlechtes. Genau im Gegenteil: Vor allem, wenn man viel unter Menschen ist, ist es wichtig, sich selbst zu kennen und wertzuschätzen. Was aber nicht verloren gehen darf, ist das Wissen, dass es in Ordnung ist und sogar wichtig, Hilfe anzunehmen, und Hilfe zu leisten. Was würden Sie tun, wenn Sie einen kleinen Hund auf der Straße sitzen sehen würden, der sich verletzt hat? Nehmen wir nun an, es wäre ein Wolf statt dem Hund, würden Sie das Gleiche tun? Der Vergleich hinkt, aber die Botschaft ist klar: man sollte nicht immer nur denen helfen, die man mag und von denen man einen Dank für die Hilfe erwarten kann. Ob man dies mit dem christlichen Gebot von Nächstenliebe als Basis tut oder andere Beweggründe hat, ist egal, wichtig ist nur, dass man es nicht nicht tut. Es gibt genug Vorbilder, die zeigen, was Solidarität wirklich bedeutet: freiwillige Helfer in Flüchtlingscamps, Kranken- oder Altenpfleger, die sich trotz der furchtbaren Bezahlung und der Arbeitsbedingungen für ihren Beruf entschieden haben, oder das nette Mädchen in dere Schule, das mir immer geholfen hat, wenn mir im Biounterricht mal wieder von dem ganzen Gerede über Blut schlecht geworden ist.
Ist Solidarität ein überholtes Ideal? Nein, auf keinen Fall, und deshalb sollten wir sie auch nicht so behandeln.