Der zweite Teil ist immer schlechter
Unsere Koordinatorin hat uns schon beim Ausreiseseminar davor gewarnt: der zweite Abschnitt des Kulturschocks, die „Krise“, in die man nach der Honeymoon-Phase gerät. Tja, willkommen! Ein Versuch, das Ganze rational zu sehen.
Da bin ich wieder. Es wird kälter und dunkler hier in Cluj – ich habe eine zweite Decke bekommen und bin mittlerweile Expertin darin, im Dunkeln die Ladebuchse meines Handys zu finden.
Ich will nicht behaupten, dass es meine Lieblingswoche war, ich war jedenfalls öfter deprimiert gestimmt, oft ohne erfindlichen Grund. Was auch nicht zu wenigen Leuten aufgefallen ist. Vielleicht ist es der langsam verschwindende Schnupfen oder das fehlende Sonnenlicht oder auch nur die abklingende Ekstase der ersten, „neuen“, aufregenden Wochen.
Zerrende Tage
Zugegeben, die Arbeit wird auch ziemlich anstrengend. Zehn Babys und Kleinkinder mit drei Leuten im Zaum zu halten ohne deren Sprache zu sprechen ist nicht nur höllisch anstrengend, sondern auch frustrierend. Meine Arbeit kommt mir bedeutungslos vor. Wir können den Kleinen nichts beibringen und sie nicht fördern, wenn wir all unsere Energie dafür aufwenden müssen, auf sie aufzupassen. Und das, obwohl es so prägende Jahre für sie sind. Donnerstag ging ich in die mittlere Gruppe, um den Musikunterricht zu fotografieren – so schön das auch war, ich war ziemlich eifersüchtig.
Und jetzt wurde auch noch ein elftes Kind angekündigt, obwohl zehn das Maximum sind. Als ich das erfuhr, war mir beinahe nach Heulen zumute (besonders nachdem ich meinen Chef zur Rede stellte und er mir erklärte, dass es „weise“ sei, die Gruppe zu überfüllen, weil immer mal wieder ein Kind krank sei. Kein Witz!). Ein Gespräch mit meiner Koordinatorin war dann aber purer Balsam. Falls du das liest, dann Gruß an dich, Tekla - ich könnte mir gar keine bessere Entsendeorganisation wünschen!
Was in diesem Kindergarten fehlt fehlt, sind genügend Angestellte – ohne EVSler könnte der Laden schließen, obwohl er mehr als genug Geld hat. Alles in allem ist es momentan definitiv kein Lerndienst, sondern ein Job, der der Gesellschaft nichts bringt, sondern der Kita nur Geld spart.
Und doch...
Aber trotzdem hab ich jeden Morgen Motivation zum Aufstehen... erinnert ihr euch noch an das durchheulende Kind, Petru? Jetzt, da es ihm besser geht, schreit er jeden Morgen aufgeregt auf wenn ich den Raum betrete und läuft dann mit ausgebreiteten Armen und strahlendem Gesicht auf mich zu, um eine Umarmung abzustauben. Das ist eine schöne Art, den Tag zu beginnen.
Die Fotografie und die Proben für das Krippenspiel machen mir auch Spaß. Freitag war es wieder soweit. Zwei Kinder fehlten erneut, fragt mich nicht, wie Emoke (die Leiterin der Gruppe) sich das langfristig vorstellt, na ja. Matjas und Bianka zickten ein wenig rum, der Rest war begeistert mir bei der Sache. Ich versuche, es mit ganz vielen Spielen zu begleiten, was gut ankommt. Gesungen haben wir auch zum ersten Mal. Bei der Rollenverteilung war ich flexibel, wenn jemand eine Rolle haben will und nichts dagegenspricht, dann kriegt es sie auch. Fast schon schade, denn das kreativste Kind, Zsolt, will doch tatsächlich ein Schaf spielen. :D Nun ist er ein Schafhirte... :D
Und unser Sprachkurs ging ja jetzt auch endlich los. Kein Rumänisch, sondern Ungarisch. Ich ging total pessimistisch und fertig vom Tag in den Unterricht, was mir im Nachhinein leidtut, denn unsere Lehrerin – gleichzeitig unsere Mentorin – ist eine ganz liebe Frau. Und wow, ist die Sprache schwierig. 44 Buchstaben im Alphabet - mehr muss ich ja wohl nicht sagen!
Eins führt zum Anderen
Seit Montag bin ich außerdem Freiwillige für die Organisation Be an angel, genauer gesagt für das Gay Film Festival, das sie im November ausrichten. Das heißt bisher noch nicht viel, ich war beim Meeting – wo ich nicht viel verstand weil man ständig vergaß dass ich kein Rumänisch spreche :D – und bin in der Facebookgruppe, und ich werde wohl englische Artikel schreiben und fotografieren. Hoffe, dass es klappt, denn in das Projekt könnte und möchte ich zur Abwechslung mal Herzblut stecken. Be an angel leistet in diesem doch furchtbar homophoben Land tolle Arbeit.
Auf dem Rückweg lief ich im Supermarkt auf der Suche nach Brot noch Gagyi über den Weg, und wir gingen spontan einen Tee trinken. Ich hatte noch genau 5,50 Lei (vielleicht 1,20€) dabei, und die reichten ganz knapp für den günstigsten Tee. :D Es war ein sehr schöner Abend, vor allem, weil das Gespräch mit ihr so anregend war. Ich musste mich richtig anstrengen und überlegen, aber auf positive Art und Weise. Vorher habe ich mir noch nie darüber Gedanken gemacht, wieso ich über die Geschehnisse auf der Welt überhaupt informiert sein möchte – bis sie mich gefragt hat.
Das Wandern ist des Müllers Lust..
Freitagabend ging ich dann noch mit Irina weg. Eigentlich wollte ich nur ein bis zwei Stunden wegbleiben... daraus wurden dann fünf. :D Sie nahm mich auf den Cetatuia Hill mit und spielte dort richtig die Touristenführerin. Hier sind Muschelfossile weil das Meer mal so hoch stand und dort betrinken sich die Leute gern und wir können noch diesen geheimen Weg langgehen... sie meinte, dass ihr sowas Spaß macht. :D Und dass sie noch nie im Herbst dort war. Eine Schande, denn es ist wirklich wunderschön. Ich habe sicher keine so schöne Aussicht seit dem Sonnenuntergang vom Lincoln Center gehabt, es war traumhaft. Hätte mir eine scheuern können, weil ich meine Kamera zu Hause gelassen habe...
Irina ist Vegetarierin, und nach der kleinen Wanderungen gingen wir noch in ein vegetarisches Restaurant, wo sie mir Hummus und Brownies ausgab. Diese Frau gibt mir so viel aus! Sie musste mir versprechen, dass ich das nächste Mal zahlen darf. Aber das Essen war so! Unfassbar! Lecker! Ich habe davon geträumt, so gut war es. :D
Ich rede gern mit ihr, es ist so einfach und sie ist von Natur aus sehr liebevoll. Während sie versuchte, mir rumänische Mentalitäten zu erklären, stieß sie selbst auf Paradoxe – laut ihr wollen Rumänen zwar, dass man direkt zu ihnen ist, fassen konstruktive Kritik aber trotzdem als Angriff auf. Genau so ist es mit dem Teilen – auch wenn die Leute gastfreundlich wie sonst niemand sind und viel teilen, wollen sie doch irgendwie alles behalten, was sie besitzen. Der Kommunismus ist doch noch nicht so lang her. So etwas muss ich mir merken, und auch auf den Wahrheitsgehalt überprüfen. Bisher hat sich kein einziges negatives Klischee über Rumänen für mich bestätigt.
Nach dem essen lief ich noch mit zu mir, weil sie mir eine rumliegende rumänische Simkarte schenken wollte (ich sag ja, sie schenkt mir am laufenden Band Sachen!). Es war so weit zu ihr, aber ich habe mich nicht gelangweilt, denn sie redete die ganze Zeit über ihren Freund in Stuttgart und dass sie bald zu ihm ziehen möchte. Ihr Haus hat einen uralten Aufzug, der gleichzeitig charmant und gefährlich wirkt, und ihre Wohnung ist vollgestopft mit Nerdzeug und Deutsch-Referenzen. :D Ihr Klingelton ist doch tatsächlich „Ich hab 'ne Zwiebel auf dem Kopf, ich bin ein Döner“ - meine Güte. :D
Nach dem Treffen ging es mir wirklich etwas besser. Ja, ich habe etwas Heimweh und bin bei der Arbeit momentan in einer Sackgasse, aber deswegen muss ich nicht das Handtuch werfen. Und überhaupt... es ist ja nur noch eine Woche. Dann heißt es On-Arrival-Training! Und danach direkt Urlaub. Ich bin ein wenig gestresst, weil der einzige Bus vom Seminar nach Bukarest planmäßig um 4:20 (jaja, blaze it, ich weiß) 20km vom Flughafen entfernt ankommt und ich um 7:15 schon abfliege. Durchforste schon seit Tagen Blablacar nach besseren Alternativen... aber, ugh! Wem hilft Sorgen schon! Ich genieße jetzt erstmal das restliche Wochenende. Bis bald!