Der Winter ist keine Jahreszeit, sondern eine Aufgabe
Der Winter ist da. Und stellt mich vor viele neue, unbekannte Herausforderungen.
Wie sehr muss ich dem Literaturnobelpreisträger Sinclair Lewis bei dieser Aussage zustimmen. Der Winter hat Ganja erreicht und das ist alles andere als einen Freudenschrei wert. Na gut, vielleicht einen kleinen, weil es zwischenzeitlich sogar geschneit hat. (Das wurde ja auch Zeit. Wenn es selbst in Kairo und Jerusalem Schneechaos gab, sollte es auch ein paar Schneeflocken in Aserbaidschan geben.) Der Schnee verzauberte auch Ganja und führte dazu, dass alle Menschen sich wieder wie Kinder benahmen. Schneeballschlachten fanden auf den Gehwegen statt und Kinder rannten mit ihren Bommelmützen und leuchtenden Augen durch die Straßen. Nur die Autofahrer schien der Schnee überrascht zu haben (wirklich?). Aber wenigstens fuhren ein paar von ihnen langsamer, während die meisten sich wohl entschieden hatten, das Glatteis auf den Straßen zu ignorieren und genauso verrückt zu fahren wie bisher. Das hat leider zu ein paar Unfällen geführt. (Ich hoffe, es waren nur Blechschäden.) Und selbst die Plastiktannenbäume, die im Bazaar für die Feierlichkeiten um Silvester rum zum Kauf angeboten wurden, sahen schneebedeckt fast schon weihnachtlich und einen Hauch weniger kitschig aus.
Aber mit dem Schnee kommt leider auch die Kälte und die bringt ein anderes Lebensgefühl mit sich, als ich es bisher gekannt habe. Doch das begriff ich erst, als ich an dem Tag, an dem es schneite, den Wasserhahn in unserem Häuschen aufdrehte und... nichts kam. Das Wasser war eingefroren. Und irgendwie hatte ich das nicht kommen sehen. Also stand ich ratlos vor dem Waschbecken und hielt ein Zwiegespräch mit dem Wasserhahn, wie ich ihm ein paar Tropfen abringen könnte. Und wie ich denn jemals wieder im Winter duschen sollte... Doch ganz nach aserbaidschanischer Manier entschied ich mich, das Problem zu ignorieren. Irgendwann würde das Wasser schon wieder auftauen. Spätestens im März. Was soll der Stress? Und dann kam mir doch noch eine Idee: Jedes Haus in Aserbaidschan besitzt auf dem Dach einen "Wassertank". Dieser ist mit einem Wasserschlauch mit... nun ja, mit irgendwas verbunden, von dem mensch Wasser abpumpen kann. Alles, was dafür getan werden muss, ist einen kleinen Schalter in der "professionellen" Elektroanlage des Hauses umzulegen und zu warten, dass Wasser kommt. Und dann aufzupassen, dass der Tank nicht überläuft. (Klingt vielleicht einfacher, als es wirklich ist, da mensch ja nicht in diesen Tank hineinsehen kann, weil er auf dem Dach ist, und dann lustiges Raten losgeht, wie voll er wohl sein könnte. Aber das Überlaufen ist nun auch nicht so dramatisch. Es ist einfach wie ein heftiger Regenschauer, der vom Dach in unseren Hof kommt und bei dem sich ein etwas größeres Rinnsal vor unserer Tür bildet.) Ich ließ also die Wasserpumpe an und wartete darauf, dass das neu dazu gepumpte Wasser für den nötigen Ausgleich zum gefrorenen sorgte (wie genau das jetzt funktioniert hat, weiß ich auch nicht - ich war nur froh, dass meine Physikkenntnisse zum Überleben ausgereicht hatten). Der Tag war gerettet und der Wasserhahn und ich konnten ein Friedensabkommen unterzeichnen.
Aber nicht nur das gefrorene Wasser stellt mich hier vor neue Herausforderungen: Auch die Kälte in den Häusern. Rein metereologisch betrachtet ist es in Ganja einige wenige Grad Celsius wärmer als in Deutschland. Und das allein scheint als Grund auszureichen, kein adäquates Heizungssystem in Aserbaidschan zu haben. Wir persönlich (also ich und mein Co-Freiwiliger) haben einen Gasofen für unser Warmwasser, einen im Wohnzimmer und einen in meinem Zimmer (mit dem ich auf Kriegsfuß stehe). Der Trick an alten Heizöfensystemen ist der, dass sie nur in Betrieb sein können, wenn sie unter Beobachtung stehen. Während unserer Arbeitszeit und während wir schlafen, sind also alle möglichen Heizquellen ausgeschaltet. Dies führt dazu, dass wir uns nun, im Winter, in einem täglichen Kreislauf des Frierens und des um den Ofen Herumtänzelns befinden. Jeden Tag, wenn wir von der Arbeit nach Hause kommen, sind es in unserem Wohnzimmer 10° Grad. (Und diese "hohe" Durchschnittstemperatur haben wir auch nur durch tägliches Heizen erreicht. Als wir aus unserem Weihnachtsurlaub zurück kamen, waren es milde 2° Grad im Haus!) Dann heißt es Ofen anmachen und unter die Decke kriechen, bis es irgendwann etwas wärmer geworden ist. Kurz vor dem Schlafen gehen haben wir unser Wohnzimmer auf 18-20° Grad erwärmt. Dann in die kalten Schlafzimmer, die ja nicht geheizt wurden, zum Schlafen umzuziehen, erschien uns schnell als wenig sinnvoll. Daher haben wir unsere Betten ins Wohnzimmer verfrachtet und wohnen UND schlafen dort nun bis zum Frühling. In der Nacht hat die Kälte dann wieder ihre Chance. Beim Aufstehen sind wir wieder bei angenehmen 10°. Warum? Weil die Häuser hier natürlich nicht gedämmt sind und dazu kommt, dass das Rohr, welches das Gas nach draußen leitet, durch die Fensterscheibe geht. In der Fensterscheibe ist also ein Loch, dass im Idealfall der Größe des Rohres entspricht. Meist ist das aber nicht so. Dann schläft mensch eher gefühlt mit offenem Fenster- im Winter!
Nach dem mühevollen Aufstehen geht es dann ab ins Büro... in dem es gar keine Heizung gibt. Warum auch? Bei 7° Grad Außentemperaturen braucht kein Mensch eine Heizung im Büro. Frieren ist eh gerade sehr en vogue in Aserbaidschan. Und das ist doch mal ein Fashiontrend, bei dem sich das Mitmachen lohnt. Vielleicht verliert mensch dann ein paar überflüssige Kilos, weil der Körper so viel Energie verbraucht, einen Hauch von Wärme im Körper zu erhalten?! Dass mich dieses fast ganzzeitliche Frieren in eine konstante Müdgkeit versetzt, ist da eher nebensächlich. Und doch bin ich immer so müde. Diese Kälte kostet einfach zu viel Kraft. Vielleicht sollte ich Winterschlaf als adäquate Winter-Überlebenstrategie in Betracht ziehen? Bisher habe ich mich eher im Zwiebellook-Perfektionieren versucht. Zur Veranschaulichung gibt es dafür an dieser Stelle ein kleine Auflistung meiner täglichen Kleidung (aus Gründen des Anstandes lasse ich meine erste Schicht Unterwäsche mal außen vor und starte mit Schicht 2):
Schicht 2: Thermoleggings, Nierenwärmer aus Angora (danke, Mama!), Thermohemd (danke, Katja und Anne!), Thermostrümpfe
Schicht 3: Jeans oder wahlweise auch eine weitere Strumpfhose und Rock, Rollkragenpullover, Wollsocken
Schicht 4: Oberteil nach Wahl (damit ist dann auch der Anschein gewahrt, dass ich mir Gedanken um mein Outfit mache) und Fleece- oder Wollstrickjacke, Tuch (wahlweise auch Schal)
Schicht 5: Winterschuhe mit Thermoeinlagen, Winterjacke
Und wenn ich dann alles anhabe, hoffe ich inständig, dass ich einfach nie wieder auf die Toilette muss. (Ich weiß, das ist hier alles etwas persönlich, aber wir sind ja unter uns.) Ansonsten ergeht es mir, wie es dem Ice Hockey-Spieler (oder war es ein Football-Spieler?) in der Snickers-Werbung erging. (Könnt ihr euch noch an die erinnern? Ich hätte gerne einen Link gepostet. Hab sie aber nicht finden können.) Und frage mich, wie ich es jeden Morgen wieder schaffe, mit einer Nonchalance meinem warmen Bett zu entfliehen, tausend Sachen anzuziehen und ins kalte Büro zu gehen. Motivation und Enthusiasmus ist anscheinend ausreichend.
PS: Ich habe mir ein kleines Winteraccessoire gegönnt, dass alles besser macht (die Ohren bleiben warm und die Schreie der Händler im Bazaar und das konstante Hupen der Autofahrer wird irgendwie angenehmer).
PPS: Wir sollen im Büro eine Heizung bekommen. Es besteht also noch Hoffnung, dass ich nicht komplett erfriere!