Der typische Corona-Wahnsinn
Sechs Wochen ohne Arbeit und Freunde treffen liegen hinter mir und meiner Mitbewohnerin. Gemeinsam haben wir das Social-Distancing durchgestanden und den Coronatest überlebt.
Am 13. März bekamen meine Mitbewohnerin und ich die Information, vorerst nicht mehr zur Arbeit zu kommen. Da wir in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung arbeiten und unsere Klienten zur Risikogruppe gehören, wollte unsere Chefin jede mögliche Gefahr der Infektion minimieren. Sie konnte uns noch keinen Zeitpunkt sagen, wann wir wieder anfangen dürften zu arbeiten und so gingen wir erstmal von zwei, vielleicht drei Wochen aus. Ein Trugschluss wie sich herausstellen würde.
Der April kam, von unserer Chefin erhielten wir weiterhin keine Nachricht zur Arbeit zurückzukehren und gleichzeitig von einer anderen Freiwilligen, die während der Zeit in Estland eine gute Freundin von mir geworden ist, die traurige Botschaft: Am 11. April würde sie verfrüht nach Deutschland zurückfliegen. Viele der Freiwilligen sind inzwischen diesen Weg gegangen und es wäre eine Lüge, wenn ich behaupten würde, dass meine Mitbewohnerin und ich nicht auch über einen Rückflug nachgedacht hätten. Das Coronavirus hat ganz Europa lahmgelegt und keiner kann absehen, wie lange die Ausnahmesituation noch anhält. Der Europäische Freiwilligendienst soll jungen Menschen eigentlich die Möglichkeit dazu geben, in einem selbst gewählten Projekt auszuhelfen, Menschen unterschiedlicher Kulturen kennenzulernen, Freundschaften, die über Ländergrenzen reichen, zu schließen und ein fremdes Land zu erkunden. Im Moment ist all dies jedoch mehr oder weniger nicht möglich. Für meine Freundin, deren Freiwilligendienst am 31. Mai sowieso geendet hätte, war der Rückflug daher wohl die bessere Entscheidung. Meine Mitbewohnerin und ich dagegen, die bis Ende Juli in Estland bleiben sollen, haben noch Hoffnung, dass sich die Situation bis dahin weiter entspannt.
Wir entschieden uns dazu, die viele freie Zeit, die wir ohne Arbeit nun hatten, nicht mit dem Treffen von Freunden, was nämlich immer mit einer Zugfahrt verknüpft wäre, zu verbringen. Stattdessen wollten wir die Situation ernst nehmen und uns bestmöglich an Social-Distancing halten. So kam es, dass meine Mitbewohnerin für viele Wochen mein einziger Sozialkontakt werden sollte, von der Kassiererin im Supermarkt und Skype-Telefonaten mit Freunden einmal abgesehen. Wir kommen beide aus Deutschland, doch trennen uns fast sieben Jahre Altersunterschied, welche sich insbesondere bei den Kochkünsten widerspiegeln. Wir verstehen uns aber gut und versuchen uns die Zeit, wenn nötig auch mal mit Konfettibomben, welche mit einem lauten Knall unsere ganze Küche in ein buntes Meer aus Papierschnipseln verwandeln, so schön wie möglich zu gestalten. Auch haben wir beide schon festgestellt, dass wir noch nie so viel Zeit mit einer anderen Person am Stück verbracht haben. Unser Osterfest lief anders als ursprünglich geplant, aber es war trotzdem schön. Wir haben uns gegenseitig Süßigkeiten in der Wohnung versteckt und neben selbstgebackenen Kuchen auch Wraps gegessen. Sechs Wochen klingen nach einer irre langen Zeit, im Endeffekt vergingen sie aber wie im Flug. Kinderserien auf Netflix sowie die Biografie von Miroslav Klose (dessen Buchcover inzwischen übrigens neben Familienbildern an der Wand im Zimmer meiner Mitbewohnerin hängt) versüßten uns den Tag. Des Weiteren habe ich nach fast einem Jahr Abstinenz das Joggen wieder für mich entdeckt und laufe inzwischen sogar gut gelaunt zwei Mal wöchentlich meine fünf Kilometer im estnischen Wald. Ein guter Ausgleich, während das sonst von uns besuchte Fußballtraining im Nachbarort natürlich nicht stattfinden kann. Sowieso habe ich den Wald für mich entdeckt und gehe nun auch häufiger dort spazieren. Mitte April kam es dabei zum ersten Mal nach über sechs Monaten dazu, dass ich meine dicke Winterjacke gegen eine dünnere Frühlingsjacke tauschen konnte. Der Sommer kommt langsam auch in Estland an. Während der April sehr sonnig, doch trotzdem meist noch kühl war, zeigt sich seit Anfang Mai ein neues Bild. Die Temperaturen liegen konstant zwischen 9 und 15 Grad, was für estnische Verhältnisse ungefähr mit den Tropen gleichzusetzen ist. Die ersten Menschen gehen jedenfalls schon in kurzen Hosen zum Einkaufen.
Trotzdem gab es natürlich Tage, an denen ich mich nach Normalität und einem anderen Gesicht als das meiner Mitbewohnerin sehnte. Tage, an denen ich daran zweifelte, ob wir uns nicht auch für einen Rückflug hätten entscheiden sollen. Inzwischen glaube ich aber, dass diese sechs Wochen mich persönlich weitergebracht haben. Es war eine Ausnahmesituation, die ich hoffentlich in dieser Form nie wieder erleben muss, mir aber geholfen hat, meine Privilegien mehr zu schätzen. Es war für mich selbstverständlich, dass ich meine Freunde, wenn ich wollte, besuchen könnte oder dass ich das Wochenende in Tallinn verbringen und mich an jeder Ecke in ein Restaurant oder Café setzen könnte. Selbst das freie Reisen und die offenen Grenzen innerhalb der EU habe ich nie hinterfragt. Nun weiß ich aber, dass es anders sein kann und ich das, was ich habe, viel mehr schätzen sollte.
Mitte April hörten wir dann endlich wieder von unserer Chefin, welche uns darum bat, einen Coronatest zu machen, würde dieser negativ sein, dürften wir wieder zur Arbeit kommen. Am Sonntag den 19. April klopften dann zwei vollständig in Schutzkleidung gekleidete Mitarbeiter des estnischen Gesundheitsamtes an unsere Wohnungstür, um den Test mit uns durchzuführen. Auf der Türschwelle, die Wohnung betreten durften sie nämlich nicht, wurde erst mir und danach meiner Mitbewohnerin ein Abstrich aus der Nase genommen. Der Abstrich war ziemlich unangenehm, doch, auch wenn meine Mitbewohnerin daran in den ersten Sekunden noch zweifelte, überlebten wir es beide. Da in Estland alles digital abläuft, erhielten wir die Ergebnisse natürlich auch online über ein Zugangsportal des Gesundheitsamtes, bei dem wir uns mit unserem estnischen Personalausweis anmelden konnten. Die Tests wurden Sonntagmittag gegen 12 Uhr gemacht, am gleichen Tag um 19 Uhr hatten wir bereits die Ergebnisse: Negativ. Wir gaben die freudige Nachricht an unsere Chefin weiter, worauf dann aber doch noch ein nerviges Hin und Her folgte. Es stand immer noch nicht fest, ob wir als Freiwillige wirklich wieder zur Arbeit zurückkehren könnten, bis wir endlich die Information erhielten, dass wir ab Dienstag dem 28. April unter speziellen Bedingungen wieder arbeiten könnten. Unsere Einrichtung besteht aus sechs eigenständigen Häusern, zwischen denen wir uns eigentlich frei bewegen oder auch häuserübergreifende Aktivitäten wie die wöchentliche Disko anbieten. Um das Infektionsrisiko jedoch gering zu halten, ist dies nun vorerst nicht mehr möglich und wir dürfen nur noch in dem dritten Haus arbeiten. Die letzten zwei Wochen haben wir daher mit den 10 Bewohnern des dritten Hauses verbracht und mit ihnen gemalt, gespielt und gebacken. Die ersten Tage musste wir dabei keinen Mundschutz tragen, Mundschutzpflicht gibt es in Estland nebenbei erwähnt sowieso nicht, was uns jedoch als falsch erschien. Wir setzten uns mit der Chefin in Kontakt und baten sie darum, uns mit Mundschutz auszustatten, was nach einigen Tagen auch funktionierte. Seitdem sind auch viele andere Mitarbeiter unserem Beispiel gefolgt und tragen nun Mundschutz. Nur weil unser Coronatest vor einigen Wochen negativ war, ist es nämlich rein theoretisch trotzdem möglich, dass wir uns die letzten Tage beispielsweise im Supermarkt mit dem Virus infiziert haben. Viele der Klienten sind uns nach fast neun Monaten in Estland richtig ans Herz gewachsen und auf keinen Fall wollen wir für sie eine Gefahr darstellen.
Der Notstand, während welchem sich unter anderem nur mit zwei Personen in der Öffentlichkeit getroffen werden darf, dauert hier, sofern er nicht erneut verlängert wird, noch bis zum 17. Mai an. Derzeit sind die meisten Esten aufgrund niedriger Zahlen bei den Neuinfektionen optimistisch, dass es ab dann tatsächlich zu weitreichenden Lockerungen kommt. Auch unsere Chefin meinte zu uns, dass das Arbeiten ab dem 17. Mai wieder geregelter ablaufen kann und wir beispielsweise auch Klienten anderer Häuser besuchen dürfen. Ich will mich nicht zu früh freuen, doch habe ich Hoffnung, dass sie Recht behalten soll und ich die letzten Wochen meines Freiwilligendienstes doch noch einmal richtig genießen kann.
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