Der kleine Mann mit dem bunten Vogel
Eine kleine Anekdote über einen kleinen Mann aus Indien.
Vijayawada: Als ich die wild befahrene Straße überquere huscht mir eines Morgens ein kleiner Mann über die Füße. Er grinst mich an und ich lächle zurück. „Ich muss mich tummeln“, denke ich mir und laufe mit einem heißen Chai in der Hand Richtung Railwaystation, wo ich den Männern und Frauen helfe, Straßenkinder aufzusammeln. Die Arbeit hört sich lustig an; sie ist es aber nicht. Immer auf der Suche nach Kindern, die herumirren, Kindern mit schmutziger Kleidung, Jungen und Mädchen ohne Schuhe, Kinder die arbeiten, Kinder die betteln, die sich verkaufen um sich was kaufen zu können. Bald habe ich heraus, welche Kinder wir mitnehmen und dann in den Shelter zur Erstversorgung bringen. An diesem Morgen treffe ich Stunden später wieder den kleinen Mann. Er trägt einen großen Plastiksack auf dem Rücken und sammelt Pappbecher und Alutellerchen auf, die er später verkaufen wird. Er grinst noch immer. „Da sollte ich mir eine Scheibe abschneiden. Wieso lacht er? Wieso geht er mit so einer Leichtigkeit über die Bahngleise? Ein Mensch, in seiner Welt schwimmend wie ein kleiner vor sich hin blubbender Fisch. Und ich? Der grantige Schwertfisch dahin stampfend“. Ich deute ihm, dass ich nicht verstehe, was er mir sagen möchte und grinse zurück. Am nächsten Tag treffe ich ihn wieder. Er schläft am Straßenrand. Als ich an ihm vorbeilaufe, wacht er auf und deutet mir mit ihm mitzukommen. Ich laufe ihm um die Ecke hinterher und aus einem morschen Bretterverschlag holt er einen kleinen Karton hervor. Behutsam öffnet er die Schachtel und greift nach einem kleinen bunten Vogel mit einem langen roten Schnabel und türkisen Streifen auf den Flügeln. Er setzt ihn in meine Hand. „What beautiful animal“, versuche ich in meinem besten indischen Englisch und er nickt. Der kleine Mann kann nicht sprechen und er hört auch nicht was ich sage, aber ich glaube er versteht mich. Ich knipse ein Foto von ihm mit dem Vogel und am nächsten Morgen bringe ich es ihm. Er grinst. Ich frage mich wie lange er sich selbst schon nicht mehr gesehen hat, da es so wirkt als hätte er Schwierigkeiten den Mann auf dem Foto zu erkennen. Ich rede irgendwas daher; über Indien, über Österreich. Er nickt und grinst. Ein paar Tage ist er wie vom Erdboden verschollen und auch am Bahnhof sehe ich ihn nicht mehr. Dann endlich wieder: Frühmorgens steht er vor mir, der Alkoholdunst hängt ihm nach und er sieht traurig aus. Ich frage was passiert ist und er deutet mir, dass jemand sein Foto zerrissen hat. „No problem, tomorrow new one“, versuche ich in meinem besten indischen Englisch. Am nächsten Tag bringe ich ihm die Abzüge und er grinst. Die Tage verrinnen. Wir deuten uns Sachen mit den Händen und Füßen. Ich quatsche irgendwas da her, aber die meiste Zeit grinsen wir einfach. Wort- und tonlos. Beinahe jeden Tag. „This is my man“, habe ich immer gesagt. Ein wortloses Band. Irgendwo haben wir uns vielleicht schon mal getroffen. Vielleicht war ich damals in Indien auf der Straße und er hat mir Chai und indisches Brot gegeben. Vielleicht haben sich unsere Wege auch nur allzu oft zufällig in Vijayawada gekreuzt. Wie auch immer. „This is my man“, sage ich heute. Ein letztes Mal gehe ich aus dem Shelter und da steht der kleine Mann umkreist von anderen Indern. Der Alkoholdunst liegt in der Luft. Ich deute ihm, dass ich nach Hause fliegen werde und er zeigt mit den Händen, dass sein Herz weint. Tränen druckt es mir in die Augen. Der Mann bleibt allein zurück. Er greift nach meinem Arm, lässt ihn nicht los, wischt mit seinen schmutzigen Händen seine Wangen trocken. Ich hänge ihn meinen Blumenkranz um den Hals und gehe. Wir sehen uns wieder. Vielleicht kreuzen sich unsere Wege wieder allzu oft zufällig irgendwo anders. Vielleicht kauft er mir eines Tages einen heißen Glühwein, wenn ich Durst habe und das nächsten Mal bringe ich ihm eine Portion Reis mit Curry, wenn er Hunger hat.