Das Elend hinter den schönen Fassaden *
Soziale Exklusion bedeutet nicht immer Ghetto am Stadtrand. Das wissen die Bewohner der Sozialwohnungen Lublins aus eigener Erfahrung. Sie leben nur einen Steinwurf entfernt von den teuersten Restaurants der Stadt. Doch eine Cola können sie sich dort kaum leisten.
Der wehmütige Blues eines Straßenmusikanten dringt durch das backsteingemauerte Stadttor. Eine Blumenfrau hat im kühlen Schatten des Bogens ihre Auslage aufgebaut und bietet selbstgesteckte Sträußchen für einige Groschen an. Der warme Geruch von Gebratenem aus den exklusiven Restaurants empfängt den Besucher. Eine exklusive Mahlzeit in einem der Biergärten der Lubliner Altstadt kostet schon mal bis zu zehn Euro. Für Touristen ein Schnäppchen. Für viele Polen eine Menge.
Das liebevoll Starówka (etwa: „Die Alte“) genannte Zentrum der Stadt gehört zu einem der schönsten in Polen. Die Atmosphäre während der sommerlichen Musikfestivals ist in Worten schwer zu beschreiben. Abseits vom Massentourismus empfängt den Besucher eine beschauliche Mikrowelt. Ein bisschen ist es wie in einem romantischen Freilichtmuseum. Oder wie in einer italienischen Kleinstadt. Zumindest im Sommer. Überblick verschaffen wir uns auf der Spitze des Trinitätsturmes. Vom beschwerlichen Aufstieg lenkt eine Ausstellung religiöser Kunst ab. Marienbilder und Plastiken zieren das Treppenhäuschen. Ein beeindruckender Ausblick empfängt uns auf der Spitze. Kathedrale, Schloss, Rathaus – auch die Umgegend der Altstadt bietet sehenswertes. Im Zentrum der Starówka machen wir das beigefarbene Krontribunal aus – ehemals königliches Gericht, heute städtisches Standesamt. Rundherum enge Gässchen, verzierte Bürgerhäuser mit renovierten Fassaden und teuere Restaurants soweit das Auge reicht.
Doch die Lubliner Altstadt hat noch ein zweites Gesicht. Vom Turm sieht man es nicht. Es ist hässlich und dreckig. Touristen, die nur die Hauptstraße nehmen, wissen nichts von der Fratze. In den Seitengassen der Altstadt versteckt liegen städtische Sozialwohnungen für Geringverdiener. Sie sind in katastrophalem Zustand. Wie beispielsweise das Haus Nr. 1 in der ul. Złota ("Goldstraße"). Der Putz bröckelt, die Wände sind über und über mit Graffiti beschmiert. Nur wenige Schritte von der beliebten Pizzeria "Sotto i Denti" sieht man im Innenhof eine Gruppe von Jungs spielen. Schwer zu sagen wer lauter schreit: Die Kinder oder eine Mutter, die sich aus einem der schiefen Fenster reckt. "Armut ist kinderreich" geht uns durch den Kopf. Im Durchgang riecht es streng nach Urin. Unser Blick fällt auf eine öffentliche Bekanntmachung am Haus Nr. 1: Nachmieter gesucht. Doch freiwillig möchte niemand in schimmelige Wohnungen mit Ofenheizung und Aborten im Treppenhaus einziehen. Wer hier lebt, dem wurde eine Wohnung "zugeteilt". So heißt es im Beamtensprech.
Wie können Glanz und Elend in so unmittelbarer Nachbarschaft existieren? Ein Treffen mit Daniel Stelmasiewicz vom "Forum für die Entwicklung Lublins" bringt erstes Licht ins Dunkel. Der Jura-Student empfängt uns gegen Ende seines Arbeitstages im Büro. Das Forum ist eine Art Bürgerinitiative. Den Aktivisten geht es vor allem um mehr Ästhetik im öffentlichen Raum. Und darum, Politiker und Stadtverwaltung aus ihrer Lethargie zu erwecken. Stelmasiewicz spricht schnell und erweist sich als eine Quelle wertvollen Wissens: "Die Altstadt Lublins war eigentlich nie Wohnort der gesellschaftlichen Elite. Man kann das fast eine schlechte Tradition nennen. Vor dem Krieg stellte sie praktisch das jüdische Armenviertel dar. Nach 1945 gab es eine große Wohnungsnot in der Stadt. In Konsequenz der kommunistischen Ideologie wurden daher im Zentrum eher die unteren Gesellschaftsschichten angesiedelt."
Diese sind bis heute geblieben. Von dieser "schlechten Tradition" möchte die Stadtverwaltung nun abkommen. Nach Angaben von Artur Cichoń, Pressesprecher der Kommunalen Immobilienverwaltung Lublin, ist man auf dem besten Weg. Von seinem Fenster hat er Aussicht auf die Lubliner Altstadt. Das Amt liegt in einem der wie neugebaut scheinenden Häuser mit pastellfarbener Fassade. "Die Mehrheit der Wohnungen im Eigentum der Gemeinde Lublin ist in gutem Zustand. In den letzten drei Jahren haben wir 18 Gebäude renoviert." konstatiert der Beamte gleich zu Beginn des Gesprächs. Selbstkritik darf man von Stadtdienern wohl auch kaum erwarten. "Die Altstadt sieht von Mal zu Mal besser aus. Es wird immer sicherer. Man kann verweilen und etwas essen. Das war früher undenkbar. Da gab es hier nur ein Restaurant."
Cichoń zufolge hat Lublins Altstadt im landesweiten Vergleich eine besonders komplizierte Eigentumsstruktur. Zu Privatbesitz und kommunalem Wohnbestand kommen noch genossenschaftlich verwaltete Objekte. Für die Mieter der städtisch finanzierten Wohnungen hat die Stadt eine besondere Verantwortung. Kein Bewohner kann ohne Angebot eines Ersatzes auf die Straße gesetzt werden. So will es das Sozialrecht. Und hier liegt der Kern des Problems. Die chronisch klamme Stadt könnte ihre Schrottimmobilien zwar theoretisch verkaufen - aber nur samt der Sozialhilfeempfänger, die dort wohnen. Darauf wiederum geht kaum ein privater Investor ein. Und aus Geldmangel baut die Stadt Lublin keine neuen Sozialwohnungen außerhalb der Altstadt.
Aber es käme doch durch die Privatisierung gerade Geld ins Stadtsäckel? Warum dieses nicht reinvestieren? Wir fragen bei Herrn Stelmasiewicz nach: "Kein Privatmann glaubt an das Ehrenwort der Stadt, dass diese aus den Einnahmen bessere Ausweichquartiere baut und die Mieter umsiedelt. Das kann sie auch so einfach gar nicht. Die Prozeduren sind komplizierter." Eine klassische Pattsituation bei der alle Beteiligten verlieren. Besonders die ca. 2200 Menschen, die in bester Lage zwischen Museen und dem deutschen Honorarkonsulat (!) in engen Mietswohnungen dahinvegetieren.
Eine von ihnen ist Elżbieta. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen. Journalisten. Da weiß man ja nie. Es war nicht leicht einen Gesprächspartner wie sie zu finden. Auch bei Tag scheinen die verwinkelten Seitengassen verwaist. Kein Vergleich zum quirligen Leben rund um die Cafés und Kneipen. Und es ist dreckiger. Die kleine Frau Ende Fünfzig nuschelt. Fast scheint es als wolle sie nicht, dass wir sie verstehen. Und doch gibt sie Auskunft. "Das Haus in dem ich wohne wurde an einen privaten Investor verkauft. Dessen erste Amtshandlung: Ich muss 50 Prozent mehr Miete zahlen." So funktioniert es also doch. Wenn man die Mieter nicht legal vor die Tür setzen darf, kann man sie immerhin noch zwingen von selbst zu gehen.
Schreiende soziale Ungleichheit und Kriminalität gehen gewöhnlich Hand in Hand. Wie es mit der Sicherheit in ihrer Straße stehe, fragen wir Elżbieta: "Die Polizei schaut hier vorbei. Aber selten abends. Zwei bis drei Diebstähle am Tag sind daher normal." Am Krontribunal war uns sofort die Polizeipatrouille aufgefallen. Beim Ortstermin im einzigen Lädchen am alten Marktplatz hörten wir nur positive Stimmen. Ja, die Altstadt sei sicher. Es gebe ja Kameras. Man fühle sich nicht bedroht. Stelmasiewiczs Worte klingen noch in unseren Ohren: "Vor 20 Jahren ist kein normaler Mensch durch die Altstadt gegangen. Zu gefährlich." Die Altstadt zerfällt in zwei Hälften. Die eine sollte man nachts meiden.
Nicht alle Bewohner der Lubliner Sozialwohnungen sind kriminell oder arbeitslos. Und der Staat hilft noch durch Wohngeld oder Sozialhilfe. Doch die Sätze sind niedrig. Ein Arbeitsloser erhält umgerechnet 141 Euro monatlich. Für eine Einzimmerwohnung zahlt man in Lublin aber um die 250 Euro. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in Ostpolen liegt wiederum bei ca. 300 Euro. Miete und Nebenkosten fressen fast den gesamten Verdienst auf. Oft sind Mann und Frau berufstätig. Eine Sozialwohnung ist daher für viele die Endstation. Aus eigener Kraft kommt niemand aus ihr heraus.
Für die Bewohner der Lubliner Innenstadt wird sich also nichts ändern. Nicht in absehbarer Zeit. Zusammengepfercht in bester Lage sind sie vom schönen Leben um sie herum ausgeschlossen. Günstigenfalls können die Mieter auf die Abschiebung in neue Wohnungen am Stadtrand "hoffen". Von der Renovierung "ihrer" Sozialwohnungen träumen nicht einmal Idealisten. Elżbieta bringt es auf den Punkt. "Ich bin ja auch bereit umzuziehen. Ich möchte doch nur im 21. Jahrhundert wie ein Mensch leben."
* Teil 2 einer dreiteiligen Serie über Urbanisierung und Stadtentwicklung in Lublin