Das Coronavirus hat auch Estland erreicht
Kurz vor dem Corona-Wahnsinn traten meine Freunde und ich unsere Reise nach Lettland und Litauen an – und merken erst jetzt, was für Glück wir doch hatten, dass sie überhaupt noch stattfinden konnte.
Am ersten Freitag im März gab es von meiner estnischen Organisation ein Meeting mit allen Freiwilligen, wie es knapp alle drei Monate stattfindet. Der Fokus lag bei diesem Treffen insbesondere auf der Beendigung des Freiwilligendienstes und wie es danach weitergehen kann, da, wie ich mit Schrecken feststellen musste, die meisten anderen Freiwilligen schon Ende Mai nachhause fliegen. Was für mich und meine Mitbewohnerin, die wir beide planen, bis Ende Juli in Estland zu bleiben, noch so weit entfernt schien, war für die anderen Freiwilligen aber sicherlich ein informationsreiches Zusammenkommen. Wie immer bekamen wir auch kostenloses Mittagessen und einen Nachmittagssnack, sodass ich gegen 17 Uhr gemeinsam mit meiner Mitbewohnerin und einer weiteren Freiwilligen aus Deutschland gestärkt zum Bahnhof aufbrechen konnte. Dort trafen wir uns mit einem weiteren Mädchen, da wir alle zusammen nach Riga und Vilnius fahren wollten. Freitagabend jedoch fuhren wir mit dem Zug erst einmal nur bis nach Valga, direkt an der Grenze zu Lettland, wo eine österreichische Freiwillige lebt (beziehungsweise lebte, aber dazu später mehr), die sich uns anschloss und uns netterweise eine Nacht bei sich übernachten ließ. Samstagmorgen um 5 Uhr ging unsere Reise dann mit dem Zug Richtung Riga erst richtig los. Die Fahrt dauerte etwas weniger als vier Stunden, sodass wir sogar vor neun Uhr in Lettlands Hauptstadt ankamen. In Riga schliefen wir zwei Nächte in einem tollen Hostel mit kostenlosem Frühstück, wovon wir uns eine Nacht unser Zimmer mit einer deutschen Backpackerin teilten. Insgesamt sind im Baltikum viel mehr Deutsche unterwegs, als ich es jemals gedacht hätte. Fast an jeder Ecke hört man deutsch, wobei es sich dabei von Jungesellenabschieden, die den günstigen Alkohol schätzen, bis hin zu geschichtsinteressierten Rentnergruppierungen, eigentlich um jede Altersklasse handeln kann.
Riga ist mit seinen rund 630.000 Einwohnern die größte Stadt des Baltikums, was ich, die inzwischen das ruhige Tapa oder Tallinn gewohnt ist, auch schnell bemerkte. Die Stadt hat im Gegensatz zu Tallinn ein stärkeres Großstadtfeeling mit modernen Hochhäusern am Stadtrand und unzähligen Touristengruppen aus der ganzen Welt, welche sich durch die engen Straßen der Altstadt schlängeln. Auch die lettische Nationalbibliothek, die wir an unserem zweiten Tag besuchten, unterstützte diesen Eindruck mit ihrem geschwungenen Baustil und riesigen Fensterfronten. Auf der obersten Etage der Bibliothek fanden wir eine Aussichtsplattform, von welcher man die gesamte Stadt überblicken konnte.
Riga hat uns allen sehr gut gefallen, doch überwog am Montagmorgen, als wir uns in den Bus Richtung Vilnius setzten, eindeutig die Freude darüber, noch eine weitere Stadt zu entdecken, als der Wehmut, Riga bereits zu verlassen. Wir fuhren vier Stunden, bis wir Litauens Hauptstadt erreichten, wobei die Fahrt aber äußerst angenehm war. Im LUX Express hat jeder neben kostenlosen Wlan und Kaffee auch seinen eigenen kleinen Fernseher, über welchen Musik, Filme und Serien abgerufen werden können. Ich schaute mindestens die Hälfte der Fahrt Friends, was nach dem ganzen Stadterkunden eine gute Abwechslung war. Als wir schließlich in Vilnius angekommen waren, bezogen wir erst unser Hostel, bevor wir durch die Altstadt schlenderten und die Republik Uzupis erkundeten. Bei Uzupis handelt es sich um eine eigenständige Republik innerhalb von Vilnius, mit eigener Verfassung und Regierung, die sich aus einem Künstlerviertel entwickelt hat. Neben bunten Jeans, die an jeder zweiten Laterne hingen, standen so auch alte Klaviere an den Straßenecken und es war für jeden von uns eine interessante Erfahrung. Am späten Nachmittag erklommen wir dann den Gediminas-Turm und genossen bei gutem Wetter die Aussicht. Deutlich wurde uns allen spätestens bei diesem Blick über die gesamte Stadt, dass es sich bei Litauens Hauptstadt um eine Stadt im Wandel handelt. Unzählige Baukräne prägen das Stadtbild und neben halb eingefallenen Sovietbauten ragen plötzlich hochmoderne Wolkenkratzer aus dem Boden. Zwar ist diese Diskrepanz zwischen ärmlichen Verhältnissen aus der Vergangenheit und teuren Modernisierung heutzutage im ganzen Baltikum zu erkennen, in Vilnius fiel sie mir jedoch am stärksten ins Auge. Dienstag vor unserer Abreise nahmen wir noch an einer kostenlosen Stadtführung teil, bei welcher von 15 Teilnehmern die Hälfte Deutsche waren. Die Stadtführerin wirkte davon wenig überrascht und bestätigte noch einmal: Die meisten Touristen im Baltikum kommen aus Deutschland. Deutsche, die derzeit in Estland leben, hatte sie jedoch noch nie in ihren Führungen.
Die achtstündige Rückfahrt von Vilnius nach Tallinn über Nacht und abermals mit LUX Express verlief wenig ereignislos, bis wir an der estnischen Grenze ankamen. Die Polizei stoppte den Bus und verteilte Flyer an jeden Insassen mit Informationen und Sicherheitshinweisen zu dem Coronavirus. Vor unsere Abfahrt aus Estland war der neuartige Virus noch kein großes Thema in Estland, mit gerade einmal einer Handvoll von Infektionen, gewesen, sodass ich zwar etwas verwirrt war, mir aber nicht mehr dabei gedacht habe.
Nicht einmal eine Woche später am 17. März schloss die estnische Regierung dann die Außengrenzen, rein dürfen seitdem nur noch estnische Staatsbürger. Unser Glück also, dass wir als Deutsche es überhaupt noch bis nach Estland geschafft haben. Während für die meisten Freiwilligen seit dem 17. März auch keine Arbeit mehr möglich war, da Kindergärten und Schulen ebenfalls geschlossen wurden, gingen meine Mitbewohnerin und ich am Donnerstag und Freitag noch ganz normal zu unserer Arbeit in einer Einrichtung mit Behinderten. Freitag sprachen wir kurz mit unserer Tutorin, die den Virus da noch locker sah, bevor sie mir Sonntagabend schrieb. Wir sollten den Montag erstmal zuhause bleiben, sie meldet sich nochmal bei uns. So blieben wir Montag also zuhause und genossen die freie Zeit, als uns eine andere schlechte Nachricht erreichte. Einige Organisationen haben ihren Freiwilligen offensichtlich geraten, sich so schnell wie möglich zurück in ihr Heimatland zu begeben, sodass mehrere inzwischen schon abgereist sind. Darunter auch eine meiner besten Freundinnen, dich ich hier in Estland gefunden habe, die Österreicherin aus Valga. Dienstagmittag ging bereits ihr Flug über Frankfurt nach Wien. Bei uns anderen herrschte daraufhin große Unsicherheit, bleiben oder nicht? Meine deutsche Organisation hat sich mit mir in Kontakt gesetzt und mir empfohlen, solange ich nicht alleine bin, erst einmal zu bleiben. In Deutschland ist es schließlich auch nicht besser als in Estland, wo es inzwischen rund 300 bestätigte Fälle auf knapp 1,3 Millionen Einwohner gibt. Meine Mitbewohnerin und ich warteten also den Anruf unserer Tutorin ab, die uns Montagabend informiert, dass wir die ganze Woche lang nicht in die Arbeit kommen dürften, und entschieden uns dann erst einmal zu bleiben. Inzwischen haben wir nun auch die Information bekommen, dass wir noch eine weitere Woche zuhause bleiben sollen und bestmöglich nur noch für das Einkaufen das Haus verlassen sollten. Wir haben uns daraufhin, da zwei Wochen in einer kleinen Wohnung ziemlich langweilig werden können, einen Wochenplan erstellt, der uns kleine Aufgaben wie Estnisch lernen, putzen oder Sport machen zuteilt. Wir werden die Zeit schon irgendwie herumkriegen und dann hoffentlich ganz bald, wenn der Virus ein wenig eingedämmt wurde, wieder anfangen, Freunde zu treffen oder arbeiten zu dürfen.
Wo auch immer ihr euch gerade befindet, bleibt sicher und gesund und sofern es geht zuhause. Nicht nur für euch, sondern auch für andere Menschen, die ihr gefährden könntet.