Da steppt der Bär im Kettenhemd
Die Pflicht ruft! Unser erster Arbeitstag steht an. Zusammen helfen wir auf einem Schlossfest der Stadt Náchod, um unsere Organisation würdig zu vertreten.
Gleich am ersten Wochenende durften wir bei einem Schlossfest mithelfen. Die Stadt Náchod verfügt nämlich tatsächlich über ein Schloss. Zwar wohnt dort kein Adliger oder Feudalherr mehr, sondern ein Bär, jedoch war es immer noch schön anzusehen und bei Nacht ein guter Anhaltspunkt für all diejenigen, die irgendwie heim finden mussten. Der Bär lebte im – vermutlich – ehemaligen Burggraben und war damit ungefährlich für die Gäste. Er bat sie sogar mithilfe eines Schildes um eine Spende. Dieses Schild wurde allerdings unsachgemäß übersetzt, sodass die deutsche Version am Ende hieß: Finanzielles Geschenk mit dem Bären. Diese Glanzleistung war gedruckt auf zwei große Schilder, die wohl schon einige hundert Euro von dem Budget verschlungen haben dürften, das Bürgermeister Jan Birke zur Verfügung stand.
Auf diesem Schloss sollte an diesem Tag das Fest stattfinden. Es war eine Mischung aus Mittelaltermarkt, Fressmeile und Stadtausstellung. Somit war für jeden etwas dabei. Ich war recht zuversichtlich, mit dem Fahrrad das Schloss zu erreichen. Irgendwie würde ich den Weg da hoch schon finden. Ich wählte schlussendlich die Route, die mir ein Google-Dienst vorschlug. Hierfür musste ich erst durch die Stadt, dann rechts abbiegen und bergauf. Leider führte die steile Straße jedoch nur in ein Wohngebiet, und egal wie oft ich im Kreis fuhr, den Weg zum Schloss fand ich jedenfalls nicht. Also kehrte ich um und da ich keine bessere Möglichkeit sah, schob ich mein Fahrrad den Wanderweg hoch. An Fahren war nicht zu denken. Dann kamen auch noch unregelmäßig hohe Stufen dazu. Der Untergrund bestand aus rutschigem Laub, das weder meinen Füßen noch meinen Fahrradreifen den nötigen Halt bot. Ich trug und schob das Fahrrad abwechselnd, bis ich nach ein paar Minuten die Mauern des Schlosses sah. Der Weg wurde kurvenreich. Man hatte mir scheinbar einen Bären aufgebunden, denn dieser war nun genau vor mir.
Am Bären vorbei ging es in den Schlossinnenhof hinein. Ich hatte scheinbar ein goldenes Händchen dafür, den falschen Weg zu finden, denn ich musste mich erst durch die Menge kämpfen, ehe ich vom Sattel steigen konnte.
Ich war am Stand von Déčko Náchod angekommen. Falls Sie sich fragen, wie man den Namen der Organisation ausspricht, so rate ich Ihnen, sich an der Aussprache des schwäbischen Ausspruchs für „würdest”, nämlich: „dätsch” zu orientieren. „Dätsch” und „Ko” wie im Wort Korrespondenz zusammen ergeben den ersten Bestandteil. „Náchod” hat ein langes „A” und das „ch” wird auch als solches gesprochen und nicht etwa als „sch” oder „tsch”. Alles schon gehört. Ich war also am Stand von Dätschko Naaachod angelangt. Als erstes bastelte ich mir ein Namensschild. „Button” genannt. Ich kenne nur Jenson Button, den Formel-1-Rennfahrer.
Jeder Freiwillige hatte ein individuelles Schild für sich gestaltet. Da ich von vornherein signalisieren wollte, dass ich der tschechischen Sprache nicht mächtig war, malte ich eine kleine Deutschlandflagge über meinen Namen.
Tags zuvor wurde mir gesagt, ich würde „something with ropes”, „etwas mit Seilen” machen. Nun konnte ich auch sehen, was damit gemeint war. Der örtliche Kletterverein hatte ein riesiges Netz zwischen zwei Bäumen aufgespannt, an dem die Kinder hochklettern konnten. Die Leute dort waren professionell. Erfahrene Klettermaxe. Trotzdem hätte so etwas in Deutschland wohl kaum funktioniert. In meinem kleinen Dorf in Deutschland hatten wir einmal ein sogenanntes Maibaumklettern veranstaltet. Man musste einen kleinen Maibaum hochklettern. Es war ein riesengroßer Aufwand, für die Sicherheit zu sorgen. Bis jedes Kind das Klettergeschirr anhatte, vergingen Minuten. Das Hochklettern an sich war dann eine Sache von Sekunden. Hier in Tschechien war es anders. Und es funktionierte. An diesem Tag gab es keinen einzigen Absturz. Gut, vielleicht abends in den Bars der Stadt, aber keinen Kletterunfall. Was ich damit sagen möchte, ist, dass es offensichtlich auch ohne dreifache TÜV-Prämierung möglich war, eine Station anzubieten, die den Leuten Spaß bereitete und gleichzeitig ungefährlich war. Wenn ich mich nur zurückerinnere, wie ich damals mit Freunden einen brüchigen Kalkstein-Steinbruch ungesichert hochgeklettert bin, wundere ich mich, wie ich bisher so unversehrt blieben konnte.
Ich arbeitete zusammen mit meiner Mitbewohnerin Laura. Sie war Estin. Und ist es im Übrigen immer noch. Jedenfalls wurde uns anvertraut, die Kinder zu sichern. Das war geistig keine besonders anspruchsvolle Arbeit, aber es musste eben einer tun. Dieses Credo ließe sich auf den gesamten primären und sekundären Sektor ausweiten. Auf diese Weise konnte ich immerhin mein Tschechisch aufbessern. Ich wollte wissen, wie man den Kindern sagt, sie sollen das Netz loslassen, wenn sie oben angekommen waren. Manche hatten wohl Angst, allerdings gab es keinen Grund dazu, denn sie waren angeseilt. Sie sagten, wir sollen den Kinder „pust’ se!” zurufen. Das heißt soviel wie „Lass los!” Das beruhigte die Kinder kein bisschen, erleichterte es uns jedoch, sie sicher zu Boden zu lassen.
Es war einer der ersten Tage in Tschechien und mein Tschechisch reichte von „Guten Tag” bis „Auf Wiedersehen”. An eine Konversation war gar nicht zu denken. Leider sprachen die Verantwortlichen vom Kletterverein kein Wort Englisch. Brot einkaufen ging wortarm gut, aber ein Kletternetz zu kontrollieren war eine ganz andere Liga. Man verständigte sich mit Händen und Füßen. Nach einer Weile kamen zwei Buben und boten an, uns abzulösen. Sie seien vom Kletterverein und waren eigentlich für den ganzen Tag engagiert. Das hieß im Klartext, die zwei Stellen waren doppelt besetzt. Die Pause akzeptierten wir. Ganz ablösen ließen wir uns jedoch nicht, denn es war wie ein offizieller Arbeitstag. Das ist bei uns folgendermaßen geregelt: Pro Monat bekommen wir zwei Urlaubstage auf unser Konto gutgeschrieben. Wenn wir am Wochenende zusätzlich arbeiteten, bekommen wir pro gearbeitetem Tag dafür einen weiteren Urlaubstag. Diesen Urlaub kann man sich selbst einteilen. Es gibt eine Frist von zwei Wochen. So lange vorher muss man es ankündigen. Dann wird geschaut, ob während des geplanten Urlaubs eine weitere Veranstaltung anstand. Wenn dies nicht der Fall ist, wird dem Urlaub normalerweise stattgegeben. An gesetzlichen Feiertagen muss man nicht arbeiten und verliert auch keinen Urlaubstag. Schulferien hat man jedoch nicht, sondern muss regulär arbeiten. Dies aber dann in der Organisation Déčko, nicht in der Schule, denn die ist an diesen Tagen geschlossen.
Regulär hätten wir also arbeiten sollen. Mit den zwei Buben verständigten wir uns auf eine gewisse Schichtarbeit. Es war stundenlang die gleiche Arbeit, das musste nicht sein. Zumindest nicht am Stück, denn sonst würde man verrückt. Die Arbeit machte hungrig, sodass wir etwas zu essen besorgten. Das Fest bot dazu genug Möglichkeiten. Ich entschied ich mich für einen Teller Gulaschsuppe mit Brotrolle. Diese Rolle ist typisch tschechisch, heißt „Rohlík” und ist in jeder Bäckerei günstig zu haben. Als mich die anderen Freiwilligen fragten, wie ich die Gulaschsuppe fand und ich mit „großartig” antwortete, fragten sie, ob ich das ironisch meine. Ich verneinte. Diese Suppe war wirklich eine Klasse für sich. Nachdem man stundenlang Seil nachgezogen hatte und etwas beleibteren Kindern unter Einsatz des eigenen Körpergewichts dabei geholfen hatte, doch noch bis ganz nach oben zu kommen und stolz auf die eigene Leistung sein zu können, war es ideal, sich dieses Mahl schmecken lassen zu dürfen. Wir gingen auch ein wenig auf dem Festgelände herum. Unsere Chefin mussten wir gekonnt umgehen, jedoch funktionierte das in Anbetracht der Menschenmenge ziemlich gut. Es fand ein Umzug statt. Nein, es wollte kein Adliger wieder in sein Schloss einziehen, sondern es gab eine Parade mit verschiedenen Pärchen. Ein Männchen und ein Weibchen, alle in einer Reihe. Wie auf der Arche Noah, bloß, dass sich die Menschen verdächtig ähnlich sahen. Zudem war das nächste Schiff weiß Gott wie viele Kilometer entfernt. In Tschechien gibt es schließlich kein Meer. Die Leute waren verkleidet wie in alten Zeiten. Das war eindrucksvoll, zumal die Kleider mit viel Liebe zum Detail gefertigt waren.
Außerdem schauten wir an den anderen Ständen vorbei. An einem Stand konnte man Videospiele spielen, was ich ein wenig belustigend fand, angesichts der Tatsache, dass kulturelle Feste wie diese ja eigentlich dazu gedacht waren, eben das nicht zu tun, nicht daheim zu bleiben und die Zeit vor dem Rechner oder einer dieser Konsolen totzuschlagen, sondern rauszugehen, sich mit anderen Leuten aus der Stadt zu treffen und zusammen zu feiern. Nun ja, es war unter allen Ständen zum Glück nur eine Randerscheinung. Der Großteil der Stände drehte sich um lokale Themen. Jugendarbeit, Kinderbetreuung, heimische Produkte, das Essen selbstverständlich, Musik, Sportvereine, kurz: unzählige tolle Dinge, die es in Náchod, um Náchod und um Náchod herum so gab. Der Gemeinschaftssinn ist noch enorm tief in der tschechischen Kultur verankert und es spielt eine Riesenrolle, ob man gebürtiger Bürger, Hergezogener, Zurückgekehrter oder “nur” Reisender ist. Man ist entweder in Prag oder auf dem Land. Dort findet man eben noch solche interessanten Strukturen, von denen manche sagen, dass sie aus der Sowjetzeit kommen, andere jedoch, dass sie währenddessen sogar als Gegenbewegung zu dieser entstanden. Zwei sich widersprechende Thesen, die jedoch zum gleichen Ergebnis führten: einer heimatverbundenen Stadtbevölkerung.
Als wir das Essen zu uns genommen hatten, übernahmen wir wieder die nächste Schicht. Diese frontale Konfrontation mit der tschechischen Sprache hatte zumindest den Vorteil, dass ich ab und zu versuchen konnte, das Gesprochene im geäußerten Kontext zu verstehen. Ab und zu gelang es, man wusste, was gesagt wurde, versuchte, sich das tschechische Wort dafür einzuprägen, scheiterte jedoch meist. Es waren die ersten Tage. Eine Zeit, die noch geprägt war von den allerersten Erfahrungen mit Tschechien. Man war noch gar nicht in den Abläufen drin, fühlte sich wie ein Tourist, der jedoch nicht als dieser erkennbar war, und irgendwie in diese Lage geraten war, bereits Teil der Kultur zu sein, ohne sich jedoch verständigen zu können. Das war großartig, mag aber für einen Außenstehenden durchaus beängstigend wirken. Als Tourist wünscht man sich stets, einmal erfahren zu können, wie die Menschen im Urlaubsland wirklich denken und leben, wird dabei jedoch stets vom Schein der großen Neonschilder geblendet und erfährt – egal wie viel man auch dafür einsetzt – wohl nie mehr über das wahre Leben dieser Leute. Durch die bloße Anwesenheit an diesem Ort zu dieser Zeit war ich dem Ziel aller Touristen schon ein großes Stück näher gekommen. Das war das Faszinierende am Schlossfest. So kurz nach der Ankunft bereits einen so tiefen Einblick in die tschechische Gesellschaft werfen zu dürfen.