Craiova Nights
Dies ist keine Geschichte, sondern der Anfang einer Geschichte zweier Menschen, deren Wege sich hierin zum ersten Mal kreuzen. Viele weitere Episoden sind diesem Anfang gefolgt. Sie ist bis heute nicht zu Ende geschrieben.
Aus der Ecke des Zimmers beobachtete er sie aus dem Augenwinkel. Ihr Lachen drang bis zu ihm und streifte auf dem Weg Dutzende Menschen. Rote Strumpfhose in weißen All-Stars, ein karierter Rock und ein ausgewaschenes blaues Shirt. Das grelle Licht ließ ihr Haar fast weiß erscheinen, ihr Gesicht war vom Alkohol leicht gerötet und neigte zum Doppelkinn. In diesem kargen Raum, in dem sich die Zukunft Europas mit billigem Schnaps in die Besinnungslosigkeit trank, wirkte sie wie ein Quell purer Energie. Ihr gegenüber saß ein androgyner Este, dessen hellblaue Augen immer wieder ihren Körper streiften. Im Gegensatz zu Tommy schienen sich die beiden prächtig zu amüsieren. Dabei war dies der erste Abend, die meisten hier zunehmend angetrunken und er selbst jung, attraktiv und bei der Wahl seiner Sexualpartner nicht auf das Geschlecht festgelegt. Der Este hatte es ihm angetan, doch gerade verließen die beiden den Raum Richtung Schlafzimmer. Frustriert wandte er sich in Richtung Bar und füllte sein Glas, sah sie aber bald darauf wieder hereinkommen.Tommy grinste und bewegte sich auf das Paar zu, während der Este Richtung Badezimmer abbog.
Als Stella zum Tisch zurückkehrte, saß der Deutsche mit den dunklen Augen auf ihrem Stuhl und blickte sie herausfordernd an. Er war ihr bereits aufgefallen, attraktiv aber arrogant. Betont unbeeindruckt erwiderte sie seinen Blick. Der Schönling beugte zu ihr herüber. „Da bin ich ja schon ein bisschen eifersüchtig“, flüsterte er, den Mund nah an ihrem Ohr. Skeptisch sah sie sein süffisantes Grinsen. „Märt ist nicht mein Typ, und sowieso hundert prozentig schwul“, erwiderte sie defensiv. Er nickte wissend. „Tja, aber du bist ganz eindeutig sein Typ. Und besonders männlich“ – sein Blick glitt schamlos an ihrem Körper hinab – „bist du ja nun nicht.“ „Ganz im Gegensatz zu dir“, gab sie bissig zurück, als sie Märt durch die Tür kommen sah. Das Grinsen erhob sich. „Eigentlich... hätte ich euch beide gerne in meinem Bett“, sagte er halblaut. Damit drehte er sich zufrieden um, während sie zwischen Belustigung, Wut und gegen ihren Willen einer Spur Erregung zurückblieb.
Die meisten Teilnehmenden ahnten am letzten Abend langsam, dass dieses „On-Arrival-Training“ einen charakteristischen Ausblick auf den Freiwilligendienst bot – wenig Schlaf, viel Alkohol und alles von leichtherzigen Liebschaften bis hin zu Freundschaften für die Ewigkeit. Stellas und Tommys Beziehung dagegen war symptomatisch für eine andere zwischenmenschliche Emotion geworden: Tiefe Abscheu. Ihre Auseinandersetzungen waren legendär, und schließlich hatte sie ihre Strategie geändert und begonnen, ihn und seine Kommentare großflächig zu ignorieren.
Als Abschiedsritual wurden ihnen nun Zettel auf den Rücken geklebt, damit sie einander anonym Nachrichten hinterlassen konnten. Als sich der Tumult beruhigt hatte, legte sich eine Hand auf Stellas Schulter. Tommy stand ihr gegenüber, ein Lächeln in den dunklen Augen. „Und?“, wollte er wissen. Irritiert zuckte sie die Schultern. „Bis auf ein paar Kleinigkeiten eine super Woche“, erwiderte sie herablassend. Er wirkte tatsächlich gekränkt. Wortlos drehte er sich um, und mit neuer Wut blickte sie ihm nach. Clémentine trat hinter sie und löste das Papier von Stellas Rücken: „What's this?“, fragte sie. Noch immer genervt beugte sich Stella über den Zettel. Über einer Reihe Zeichnungen und Kommentaren stand in großen, dunklen Buchstaben ein einziges Wort: „Frieden?“