Couchsurfer-Carlos
Meine erste Erfahrung mit Couchsurfen, ganz unzensiert und ungeschönt wie es wirklich war. Wenn meine Eltern davon wüssten, wären sie sicher entsetzt, also bitte nicht weitererzählen.
Es muss ein langweiliger Sonntag gewesen sein, an dem ich mich bei Couchsurfer angemeldet habe. Das erste Mal habe ich von meinem Cousin davon gehört, der damit durch halb Osteuropa gereist und gesurft ist. Und dann wurde es auf dem On-Arrival-Training empfohlen und das gab vielleicht auch letztendlich den Auslöser, ein Profil anzulegen. Kurz darauf erhielt ich die erste Nachricht. Von einem Inder, der mich einlud, ihn doch mal zu besuchen, er könne mir einen wunderbaren Tempel zeigen. Nein, danke, ich verzichte. Ich hatte meine Mitgliedschaft schon fast wieder vergessen, als ich letzten Dienstag eine Mail bekam. Jemand wollte doch tatsächlich von meinem Couchangebot Gebrauch machen. Ganz aufgeregt stupste ich Laetitia und fragte, ob sie dagegen sei. Carlos, 40 Jahre aus Palencia war auf einer Fahrradtour unterwegs, die genau durch Ayerbe führen würde und da wäre das Quartier doch perfekt. Ich überflog sein Profil, staunte über das perfekte Englisch, mit dem er mich auch angeschrieben hatte. Nicht lange überlegen, kaum hatte Laeti zögerlich zugestimmt, da klickte ich schon auf „Akzeptieren“. Wir würden übermorgen Besuch bekommen.
Was müssen wir noch alles davor erledigen? Mein Kopf fing an zu surren und gleichzeitig wurde ich etwas nervös. Ich hab das doch noch nie gemacht. Mir kam eigentlich nie in den Sinn, daran zu denken, dass es nicht ganz ungefährlich war - zwei junge Mädchen, die einen doppelt so alten Mann bei sich übernachten lassen. Was könnte da alles passieren! Zuhause nach dem Mittagessen dachten wir nun über die Details nach. Ich würde mein Zimmer frei machen, alles Wertvolle und mein Bettzeug in Laetitias Zimmer räumen. Wir einigten uns, dass er alles benutzen, aber Laetis Zimmer nicht betreten dürfe. Am Mittwoch erinnerten wir José Luis daran, eine Glühbirne für unser Bad mitzubringen. Die war schon vor Weihnachten kaputt gegangen, aber irgendwie hatten wir das verpennt, Bescheid zu sagen. Am Donnerstagmittag zwischen 3 und 4 wollte dieser Carlos mit Fahrrad ankommen. Davor putzten und saugten wir noch eifrig, der Gast sollte es ja auch sauber haben. Um halb 4 rief er an, er stehe jetzt vor einem Telecentro, wohin er müsse. Ich beschrieb es ihm, wohl aber nicht deutlich genug, denn ich sah vom Balkon aus, dass er falsch abbog. Ich ging ihm entgegen und traf auf einen dunkel angezogenen, kleinen, bärtigen Mann, der sein Fahrrad mit dem Gepäck in Satteltaschen, nebenher schob. Wir begrüßten uns und dann stellte er sein Fahrrad im Flur ab. Oben in der Wohnung stellte ich ihm Laetitia vor, die wohl nicht recht wusste, ob sie ihm jetzt Küsschen geben sollte oder nicht, bis er sagte, Nunja, in meinem Land begrüßt man sich mit Küsschen.
Wir zeigten ihm die Wohnung und das Bett und er holte seine Sachen. Zugegebenermaßen wirkte er schon etwas herunter gekommen, aber ich nehme an, alle Fahrradtourunternehmer sehen irgendwann nicht mehr frisch aus. Wir sagten ihm, er könne sich etwas zu essen machen und gingen dann erst mal zum Bäcker: wir wollten Brot kaufen und besprechen, wie wir den ersten Eindruck so fanden. Laetitia machte er etwas angst, ich fand mich bestätigt, dass er höflich, ruhig und nett war. Also kauften wir Brot und eine Tarta de Ayerbe zum Nachtisch. Er bedankte sich und versprach, abends zu kochen, weil er mal als Koch gearbeitet hatte. Außerdem erkundigte er sich nach Internet und wir meinten, er könne ins Telecentro kommen (wenn wir nicht da sind, lassen wir ihn nicht an den Laptop zuhause). Dann gingen wir zur Arbeit und ließen ihm einen Schlüssel da. Schon gleich merkten wir, dass etwas nicht stimmt, denn weder Internet, noch Telefon funktionierten. José Luis meldete den Ausfall an die Telefon-Gesellschaft und dann hatten wir ein Problem: in einer Stunde kämen die Leute zum Internetkurs und ohne Internet? Was tun? Also hatten wir die Idee, zuerst die Glühbirne im Bad zu montieren und dann unser Modem von zuhause mitzunehmen. José Luis wusste nichts von unserem Überraschungsgast, er war auch dann irgendwie erstaunt, was ein fremder Mann bei uns in der Wohnung macht. Vorhin hatte ich mir noch ausgemalt, wie lustig José Luis beim Anblick Carlos’ reagieren würde, letztendlich war es aber nicht lustig. Vor lauter Lachen konnte ich kaum erklären, was das ganze soll, aber unser Chef war wirklich verärgert. Wie unvorsichtig wir seien, wie wir auf so ne blöde Idee kämen, warum wir den ganz allein in unserer Wohnung lassen, was ist, wenn das ein Vergewaltiger ist, zumindest kann das kein ordentlicher Mensch sein, wenn er mit dem Rad unterwegs ist und nicht arbeitet. Die ganzen Vorwürfe eben, die mir meine Eltern machen würden, wenn sie das wüssten. Vielleicht war es auch ganz gut, die mal zu hören, zumal ich daran irgendwie überhaupt nicht gedacht habe. Ich versicherte, dass das bestimmt ein guter Mann ist, wenn der kochen kann und dass wir uns zur Not einschließen könnten, weil Laetis Zimmer einen Riegel hat und dass wir ein Messer mitnehmen würden, zur Sicherheit.
Das vorrangigere Problem war erst mal das Internet. Die ersten Schüler kamen und es funktonierte immer noch nichts. Carlos steckte seinen Kopf zur Tür herein und ich erklärte ihm, dass es leider ausgerechnet heute nicht funktioniert und dass er bis heute abend warten müsse. Irgendwann lief es dann doch und wir hörten interessiert zu, was Marcos uns erzählte. Um 8, als der Kurs rum war, trödelten wir doch noch ein wenig, irgendwie hatten wir glaube ich, ein wenig Angst, so viel Zeit mit einem unbekannten Mann zu verbringen. Was, wenn das Gespräch stockt, wenn's einfach doch nicht so stimmt? Unser Masterplan für alle Fälle war, dass eine von uns Bauchweh/Kopfweh/irgendein Weh vortäuscht, damit wir uns verziehen könnten. Langsam gingen wir heim, nun doch etwas nachdenklich und vorsichtiger. Wir fanden Carlos auf dem Sofa, in eine Decke gewickelt, weil ihm kalt war, ein Buch lesend. Wir stellten das Internet wieder ein und ließen ihn die nächste Couch für die kommende Nacht suchen, nicht ohne ihn aus den Augen zu lassen. Danach gingen wir in die Küche, schauten in den Kühlschrank und er schlug vor, eine Gemüsepaella zu machen. Welch Glück, dass er auch Vegetarier war. Noch ein Grund, ihn für einen guten Menschen zu halten. Wir schnippelten alle drei und schauten ihm interessiert zu, wie er Gemüse vermischte, Reis und Wasser dazu gab. Zur Sicherheit schrieb ich alles mit. Es hat tatsächlich so fantastisch geschmeckt, wie es aussah und blieb noch genug für den nächsten Tag übrig. Zum Nachtisch gabs die ayerbensische Spezialität, die Tarta. Dann unterhielten wir uns noch ein wenig. Es stellte sich heraus, dass er wirklich keine geregelte Arbeit hatte, sich eher so als Journalist durchschlug und schon bis in die Türkei geradelt und gesurft ist.
Als es tatsächlich stockte und wir unangenehme Minuten jeder still vor sich hinstarrten, holte ich mein As aus dem Ärmel und forderte ihn zu einer Runde UNO heraus. Zu zweit sind wir immer zu wenig. Er ließ es sich erklären und wir spielten drei Runden, bis er durch lautes Gähnen zu verstehen gab, dass er müde war. Vorm Insbettgehen machten wir noch ein Erinnerungsfoto (ich nehme an für seine Sammlung) und ließen klar durchblicken, dass er bitte vor 10 Uhr weiter ziehen sollte. Die Nacht war angenehm, wir verzichteten auf das Messer, aber schoben sicherheitshalber den Riegel vor. Aus dem Nebenzimmer drang nur sein heiseres Husten. Morgens war er still, trank seinen Kaffee, löffelte die Cornflakes und band seine Tüten und Taschen auf das Fahrrad. Er verabschiedete sich pünktlich und dankte für die Gastfreundschaft und verschwand hustend aus dem Haus. Einzig ein fremder, etwas strenger Geruch blieb in meinem Zimmer zurück, so wie ein Bonbon, das insgesamt schon ganz lecker war, aber einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt.