C'est fini
Ereignisse der letzten zwei Wochen & Abschied nehmen
C'est parti, ich sitzte gerade im Zug, habe Quimper verlassen und nun eine 14-stündige Zugreise vor mir. Ich habe mich irgendwie bis zum Bahnhof geschleppt mit dem viel zu schweren Koffer. Ich durchquere noch ein letztes Mal Lorient, Auray, Vannes, Rennes, Paris... Gestern Abend kam eine Nachricht vom Zugunternehmen, dass sie empfehlen, aufgrund des Wetters eine Flasche Wasser mitzunehmen. Was für eine irre Nachricht! Und am Gare Paris de l'Est verteilen sie sogar gratis Wasserflaschen. In den Tunneln der Pariser Métro schrie ein Mann ununterbrochen "L'enfer existe encore!" (Die Hölle existiert noch) und da habe ich mir gedacht, ja, da hat er verdammt nochmal Recht.
Auszug eines Textes geschrieben eine Woche vor Ende:
Du denkst: Ich habe Hunger, mir ist kalt, die Musik ist ein Abbild meines alten Ichs, du denkst, wie du so getickt hast vor einem Jahr als du diese Musik gut fandest. Du denkst an das Zimmer, in dem du die Musik heruntergeladen hast. Alles steht still, das Fenster steht noch offen. Du stellst dir dieses Zimmer so genau vor, dass dir schwindlig wird. Dieses Zimmer, in das du in einigen Tagen zurückkehren wirst und dein zu Hause sein wird. Du denkst dir, warum die zufällige Widergabefunktion des Musikabspielens nicht einmal bitte, bitte, nur ein einziges Mal, sich an meine Stimmung anpassen könnte? Dir wird das Denken zu viel, du öffnest wieder die Augen, nimmst erneut diese einsame Glühbirne an der Decke wahr. Du gehst mit deinem Blick über all die Kanten des Stuhles, des Schreibtisches, fährst mit ihm alle Kanten des Raumes nach, bleibst am Fenster hängen und fragst dich, wie das Wetter wohl draußen so ist? Was die Leute da draußen wohl so machen? Die eine Millisekunde, in der du denkst, du könntest ja einfach mal aufstehen und rausgehen, wird sofort niedergeschlagen vom einfachen Dasein im Nichts.
Ich bin resigniert. Ich weiß, dass etwas Neues dran ist, es hätte nicht ewig so weiter gehen können. Nach fast 10 Monaten ist Freiwilligenarbeit auch genug. Aber ich habe Kontakte geschlossen. Die Menschen fehlen mir jetzt schon. Ich bin voller Dankbarkeit für das ganze Jahr, aber jetzt ist es wirklich vorbei.
Hier eine Schilderung meiner letzten Wochen, Tage, Stunden:
Zum Highlight des gesamten Jahres durfte ich beim Festival "La rue est vers l'art" dabei sein. Dies ist ein viertägiges Programm für Alt und Jung. Ich habe eine Upcycling-Animation mit Kindern gemacht, die unterschiedlichsten Straßenkünstler haben ihr Talent zum Besten gegeben, die Abende habe ich mit zwei Kolleginnen die alten Damen des Quartiers zum Tanzen gebracht. Mit der orientalischen Band habe ich ein letztes Mal gesungen. Mit dem atelier chant, das ich das gesamte Jahr über in den Französischkursen geleitet habe, haben wir unerwarteter Weise zwei super Lieder hingelegt. Noch eine halbe Stunde vor Aufführung war nicht klar, wie viele wir sein würden, es war das reine Chaos. Ich konnte keine klaren Ansagen geben, da ich keine klaren Zusagen von anderen hatte. Trotzdem habe ich an dem Auftritt festgehalten et pas laisser tomber. Darauf bin ich stolz, denn schon nach dem ersten Lied haben wir einen starken begeisterten Applaus bekommen. Und wieder einmal wurde mir bestätigt, il faut aller jusqu'au bout!
Aufgrund des extrem starken Windes musste das Programm an einem Tag abgebrochen werden. Als ich zur Arbeit kam, wurde ich mit "Annulation" begrüßt. Nach dem fünften Mal konnte ich dieses Wort einfach nicht mehr hören. Wir blieben trotzdem noch fünf Stunden, da wir ein von einer senegalesische Organisation zubereitetes Essen nicht absagen konnten. Die Stimmung war einfach so niedergeschlagen. Anstatt Konzerte von RK und anderen Idiolen der französischen Jugend zu hören, saßen wir ganz still in diesem viel zu großem Saal und aßen unseren Bulgur. Der Folgetag wurde dafür umso schöner. Die Sonne schien nur so, um uns wieder aufzuheitern. Ich arbeitete an diesem Tag 17h und war dementsprechend sowas von kaputt. Aber es war super, mit einem Team so ein Ereignis zu stämmen. Ich habe Stunden nur Sandwiches, Burger und Frites serviert. Ich hatte das Glück, die Aufgaben zu wechseln, so habe ich auch Aufsicht bei Spektakeln geführt, Tickets verteilt und Getränketickets verkauft, während die abschließende Feuershow die Leute in den Bann zog. Als dann irgendwann um 3 Uhr morgens alles fertig war, und wir die immensen Berge an Müll einzeln vom Rasen pickten, war das Bild so traurig. Wo eben noch alles voller Buden, Menschen, Musik und Bühnen war, war alles wieder normal wie jeden Alltagstag. Um es ausklingen zu lassen, tranken wir Mitarbeiter noch ein letztes Glas. Ich hatte nur noch einige Tage zu arbeiten und ließ meinen Blick über all die müden Gesichter gleiten. Oh, wie sehr ich sie jetzt schon vermisse! Diese herzlichen Menschen, die immer für einen Witz bereit sind, die das gesamte Quartier und die Menschen mit all ihren Bedürfnissen motivieren, für Stunden die leckersten Gerichte zubereiten, enorm große Events organisieren und mich so herzlich empfangen haben. An diesem Abend klopften die ersten Tränen an meinen Augapfel an.
Am Wochenende unternahmen wir vier Freiwilligen einen letzten unserer vielen Ausflüge an die Küste und sahen uns ein ganz spezielles Event an: Das carton boat festival - ein Wettbewerb, bei dem man ein Boot aus Pappe baut, das so stabil ist, dass mehrere Personen mit dem Boot länger als 50 min im Meer sein können. An Dekoration wurde nicht ausgespart. Und wir sahen tatsächlich ein Boot langsam, aber stetig sinken.
Am Donnerstag ein letzter Tag mit unserer Familie Gwennili – so nennen wir unsere koordinierende Einrichtung, da sie wie eine Familie für uns ist. Wegen des schlechten Wetters wurde uns eine Überraschung versprochen: Ein Escape Room, was sich selbst für französische Muttersprachler als schwierig herausstellte. Am Abend wurde unser Jahr dann mit einem Barbecue abgerundet.
Nächsten Tag hieß es dann Abschied nehmen von meinen Arbeitskollegen. Sie organisierten für mich einen Barbecue im eigenen kollektiven Garten. Mir wurde sogar eine riesige Torte gebacken und an unnötigen Geschenken, die niemals in mein Gepäck passen und ich wieder entsorgen musste, hat es auch nicht gefehlt. Ich bereitete ein kleines Spiel vor, für das ich für jeden Kollegen eine positive Eigenschaft aufschrieb, nach dem Motte "La personne la plus..." und alle waren ganz gerührt.
Bei all dem Au revoir wird oft gesagt "A la prochaine" (Bis zum nächsten Mal). Aber was denken die Leute? Den Großteil werde ich wahrscheinlich nie wieder sehen. Sind sie zu feige, der Realität ins Auge zu sehen? Bei anderen bin ich mir sicher, dass wir uns wiedersehen werden.
Die darauffolgende Woche wurde ich von einer üblen Erkältung heimgesucht und ans Bett gefesselt. So musste ich meine geplante Reise in den Südwesten streichen. Einen Tag habe ich trotzdem gemacht: Nantes. Auch wenn ich nur wenige Stunden in der schönen Stadt hatte, wurde ich von den "machines des îles" fasziniert. Dieses letzte Trampen war ein kleines Abenteuer, innerhalb von einem Tag 450km hinter sich zu legen und dann noch die Stadt zu besuchen. Aber ich habe es geschafft!
Freitag war der letzte gemeinsame Tag mit meinen Mitfreiwilligen. Mit diesen wunderbaren Menschen war ich über das ganze Jahr hinweg am Nächsten. Wir haben all die Phasen der Euphorie, der Stagnation, der Demotivation und der Wut gegenüber unseren lauten Nachbarn gemeinsam durchstanden. Ich erinnere mich noch daran, wie wir eines Abends zusammensaßen und um alles um der Welt die Welt um uns herum vergessen wollten. Die beiden wollten einfach nur auf eine Balkan-Party gehen (sie kommen aus dem Balkan), für eine einzige Nacht alles rauslassen und dann wieder in die lieblich kleine bretonische Welt zurückkehren. Einziges Problem: Sowas gibt es hier nicht. So wurde verzweifelt ein Auto arrangiert und die einzigartige Tanzbar in der nächsten Stadt musste herhalten.
Wie nur für unseren Abschied erschaffen, fand am Freitag la fête de la musique statt. In der gesamten Stadt wurden Konzerte unterschiedlichster Musikgenres gespielt. Man musste nur einen Platz weitergehen und schon war man von Rap zu Klassik gewechselt. Wir tanzten ein letztes Mal, konnten es aber nur halb genießen, da meine Mitbewohnerinnen am nächsten Morgen aufbrechen würden zu ihrem aufregenden Trip nach Hasue (Trampen von Westfrankreich nach Kroatien). Der Morgen war dementsprechend traurig. Ich wollte sie so wecken, wie wir den allerersten Morgen in Frankreich vor 10 Monaten geweckt wurden, mit alter französischer Musik. Aber da ich wusste, dass sie mich dafür hassen würden, beschränkte ich mich auf ein lautes, motiviertes "Good morning" und das war schon zu viel für sie nach einer kurzen schlaflosen Nacht....Was kann man dieser Person noch in der letzten Stunde beim Frühstück sagen, wenn man es nicht die letzten vergangenen 10 Monate getan hat? Über was kann man sprechen, wenn man weiß, es wird nie wieder so sein, wie es war? Wir brachten sie zum nächsten Kreisverkehr, wo natürlich die Gilets Jaunes (Gelbwesten) ihren Café tranken und alles blockierten. Die Bewegung ist zu einer gemütlichen Zusammenkunft geworden, sogar am Sonntag bleiben sie bis 23Uhr am Kreisverkehr, haben dort neben all den mit Gelbwesten bekleideten Kreuzen wie selbstverständlich ihre Zelte aufgeschlagen. Haben die nichts anderes zu tun, denke ich mir nur. Zumindest wurden an diesem gesagten Kreisverkehr natürlich auch noch viele Tränen vergossen und wer weiß, wann wir uns das nächste Mal sehen....und wo... Als ich dann alleine in die leere, einsame Wohnung zurückkehrte, wurde mir schon ganz anders. Um den Abschiedsschmerz irgendwie zu durchbrechen, bin ich mit der noch gebliebenen Freiwilligen ans Meer gefahren. Wir erinnerten uns an die allerersten Tage, ans Kennenlernen, die ersten Eindrücke. Bei der Ankunft konnte ich die viel zu schnellen Ansagen im Zug nicht verstehen, jetzt bin ich eher genervt davon (obwohl ich das Nicht-Verstehen interessanter finde, da es ein Rätsel bleibt). Ich weiß noch ganz genau, wie ich aus dem für mich so seltsam stillen TGV an der Endhaltestelle ausstieg, da Quimper wirklich am Ende der Welt liegt. Wie als Willkommmensgruß der leichte bretonische Nieselregen auf mich und meinen Koffer fiel und mich zwei Männer in Empfang nahmen. Ich war noch überrascht, dass es keine Frauen waren. Der gleichaltrige service civique streckte mir seine Wange hin und auf die bisous war ich nicht vorbereitet. Natürlich wusste ich, dass sich Franzosen küssten, aber es wurde auf einmal Realität. Und während der vielen Monate habe ich unfreiwillig viele kratzige oder noch vom Regen tropfende rauschige Bärte, aber auch zahlreiche Schmatzer zu Berührung bekommen.
Am Sonntag durfte ich dann noch an einem Ausflug mit der Arbeit teilnehmen. Es war ein zweiter Versuch des im April ins Wasser gefallenen Ausfluges zum Fischen. Damals sind wir trotz Unwetter in See gestochen. Die Wellen haben uns von einer Seite auf die andere geworfen, dabei kam nicht nur Wasser von oben, sondern auch von den Seiten ins Boot. Wir haben zahlreiche Becher voller Übergebenem ausleeren müssen und keinen einzigen Fisch gefangen. Wir mussten sogar auf einer Insel Halt machen. Aber dieses Mal erschien die Sonne über uns. Da wir am Abend unterwegs waren, konnte ich die Abenddämmerung im wunderschönen Meer genießen. Ich angelte das erste Mal in meinem Leben und das gar nicht schlecht: Jedes Mal, wenn ich die Angel wieder ins Wasser ließ, biss einer an. Trotzdem habe ich diese Tätigkeit kein bisschen lieb gewonnen, besonders als Vegetarierin.
An meinem letzten Tag habe ich meiner Organisation und meiner Tutorin einen letzten Besuch abgestattet. Natürlich habe ich auch wie verrückt die gesamte Wohnung geputzt, ich habe sie noch nie so sauber gesehen (beim Einzug war sie eklig dreckig). Was ich an Umzügen am meisten mag ist die Klarheit und angenehme Leere eines Raumes. Durch den Schall wird die Musik zu einem wahren Konzert und die eigene Stimme zu einem Schauspiel, man fühlt sich wie auf der Bühne.
Es ist vorbei! Ich bin mit meinen Gedanken noch halb im Erlebten in Frankreich und schon halb im Kommenden in Deutschland, meiner Zukunft. Klar ist, dass es weitergehen wird. Die Frage ist nur wie. Das Ende von dem Einen ist ein Anfang von etwas Anderem.
P.S. Wer Interesse an dem volllständigen deprimierten Text von vor einer Woche hat, kann mir gerne privat schreiben.
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