Besuch beim Bürgermeister
Ein kleiner Einblick ins interessante tschechische Politikgeschehen.
Die Stadt Náchod hat lediglich 20.000 Einwohner. Trotzdem scheint die Kommunalpolitik den Leuten hier ziemlich am Herzen zu liegen. In Gesprächen mit Einheimischen wird dem Bürgermeister stets eine übergeordnete Wichtigkeit zugesprochen. Aus meiner Heimatstadt Schwäbisch Gmünd kenne ich das anders. Während meiner (Un-)tätigkeit als Jugendgemeinderat der Stadt Schwäbisch Gmünd habe ich nicht nur einmal die Chance erhalten, den Oberbürgermeister persönlich zu treffen. Nun hat Schwäbisch Gmünd ungefähr dreimal so viele Einwohner wie Náchod. Oberbürgermeister Richard Arnold war mehr oder weniger einer von uns. Zwar mit einem vollen Terminkalender und in einem hohen Amt, aber sich nicht zu schade, auch mal mit den Jugendgemeinderäten zusammen Eis essen zu gehen. Die Rechnung ging selbstverständlich auf ihn. Ein ungewöhnlicher Akt der Güte und Großzügigkeit.
Wenn man mit unserer Projektleiterin über den bevorstehenden Ausflug ins Rathaus sprach, kristallisierte sich eine klare Position heraus. Der Bürgermeister genießt hier eine hohe Prominenz. Nach dem ersten Tag Tschechischunterricht war es also soweit. Unsere Mägen hatten wir uns eben gerade noch mit böhmischer Hausmannskost vollgestopft. Wären wir nicht an das Programm gebunden, hätten wir uns jetzt getrost einen Lavazza- oder Julius-Meinl-Kaffee gönnen können. Bei einem Preis von umgerechnet etwa 1,30 € pro Tasse kann man eben nur schlecht Nein sagen. Man traf sich auf dem Marktplatz und wartete gemeinsam auf den Moment des Einlasses. Alles wirkte professionell, dabei hatten wir das Haus noch gar nicht betreten. In Schwäbisch Gmünd war das anders. Da ging man einfach hinein. Da wurde man auch nicht kritisch gemustert, man war Jugendgemeinderat, das schien auszureichen, um sich frei im Rathaus aufhalten zu dürfen. Anders in Náchod: eine feste Uhrzeit für den Einlass. Wir wurden hereingebeten. Eine Sekretärin in Stöckelschuhen und Rock brachte uns in den Saal.
Der Saal war dem unseren in Schwäbisch Gmünd bei weitem überlegen, wenn es um Stil und Schönheit ging. Eine vertäfelte Holzdecke, Wände, geschmückt mit dem Wappen der Stadt und derer des örtlichen Handwerks. Was man dort nicht so alles fand, ewig hätte der Blick an diesen Wänden verweilen können, wäre da nicht der eigentliche Grund gewesen, warum wir hier waren: Der Bürgermeister. Wie uns die Sekretärin mitteilte, käme der Bürgermeister etwas später. Sein Terminkalender sei voll, daher könne er keine Pünktlichkeit garantieren.
Das war nicht schlimm, so konnten wir schon einmal unseren einstudierten Spruch üben. Alle waren etwas nervös. Die Mädchen mussten sich Luft zufächeln. Ich riet zur Besonnenheit. Endlich ging die Tür auf und es war ein bisschen wie bei Wladimir Putin, wenn dieser durch die goldene Tür im Kreml schritt. Wir standen auf, ich zupfte mein Oberteil zurecht. Die Meute schwieg, alle Augen waren auf die neue Person im Raum gerichtet. Mit dem kleinen Unterschied, dass der Bürgermeister - anders als Putin - noch jemanden dabei hatte. Entweder den Bürgermeister, was bedeuten würde, dass der eigentliche Bürgermeister Oberbürgermeister sein müsste, oder den stellvertretenden Bürgermeister. Es stellte sich uns ein Jan B. vor. Da klingelt es doch, diesen Namen hatte ich irgendwo schon einmal gehört. Wo bloß? Ein Lausbubenstreich, der zur Staatsaffäre geworden ist. Wenn wir sonst keine Probleme in Deutschland haben, können wir uns glücklich schätzen. Nein, es war nicht der schmächtige Jan Böhmermann, der uns gegenüberstand, sondern ein regelrechter Schrank namens Jan Birke. Selbstbewusst stellte er sich in die Mitte des Raumes vor uns Gäste. Der erste Eindruck war positiv und das blieb er auch, so viel kann ich Ihnen verraten. Die Schulterbreite fiel mir sofort auf. Sofort fragte ich mich, was dieser Mann vorher, vor der Politik, getan haben muss. Es musste etwas mit Kraftsport sein. Anders lässt sich so ein bulliger Körper nicht erklären. Wie sich später herausstellen würde, war Jan Birke früher Eishockeyspieler.
Wir begrüßten ihn mit einer auswendig gelernten, tschechischen Floskel, die ungefähr aussagte, dass wir die neuen Freiwilligen für die Organisation Déčko seien. Freiwilligenarbeit hat eine lange Tradition in Náchod. Die Stadt profitiert von den Freiwilligen.
Gleich zu Beginn ließ der Bürgermeister verlauten, dass sein Englisch nicht gut sei und er deshalb Tschechisch sprechen würde. Die Sekretärin solle dann übersetzen. Ihr Englisch war relativ gut. Der Verdacht seitens des sympathischen Bürgermeisters, sein mangelhaftes Englisch betreffend, wurde von Seiten der Organisation natürlich gleich zurückgewiesen. Der Bürgermeister sprach gern selbstironisch von sich und den lokalen Strukturen. Er machte sich selbst zum Sündenbock, indem er sagte, dass er für die vielen Baustellen in Náchod verantwortlich sei. „Viel” ist noch eine Untertreibung, Sie kommen nirgends in Náchod mehr richtig durch. Überall wird gebaut, was ja auch sein Gutes hat. Zwar habe ich kein Auto, aber mit dem Fahrrad bin ich ständig auf der Straße unterwegs. Ein lebensmüdes Unterfangen in Tschechien, aber notwendig. Während die Bauerei auf die Nerven ging, ging die örtliche Brauerei eher auf die Leber. Ein gutes Bier produziere sie angeblich. Allgemein sei die örtliche Industrie recht erfolgreich. Legen Sie bitte nicht den deutschen Standard an. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Mittelständische Unternehmen gibt es wenige, Großkonzerne gar nicht. Das ist ja auch nicht schlimm, denn es geht scheinbar auch ohne, wie uns der Bürgermeister verriet. Die Stadt Náchod habe allein im Jahr 2016 Fördergelder in Höhe von 250.000 Euro erhalten. Das hört sich im ersten Moment nach recht viel Geld an. Zum Vergleich: Die Landesgartenschau 2014 in Schwäbisch Gmünd wurde allein von staatlicher Seite mit 68,6 Millionen Euro bezuschusst. Wenn die Gelder weiterhin so üppig fließen, kann Náchod im Jahre 2290 ebenfalls eine Landesgartenschau in Schwäbisch Gmünds Größenordnung machen.
Nachdem uns der Bürgermeister und sein Gehilfe einiges über die Stadt erzählt und sich für die Unannehmlichkeiten durch die Bauarbeiten entschuldigt haben, gingen wir alle einzeln vor, um ein kleines Präsent abzuholen. Ein Schreibblock mit dem Logo der Stadt, ein Kunststoffkugelschreiber und Werbematerial. Eine nette Geste.
Den Anfang machte Adria, ein Katalane. Er sollte sich kurz vorstellen, was er vorher nicht wusste. So artete es aus in eine ausführliche Schilderung katalanischer Bräuche. Nach diesem zeitlich etwas aus dem Rahmen geratenen Start ist man dazu übergegangen, jeden Freiwilligen nur kurz vor zu bitten. Einmal die Hand des Bürgermeisters und dessen Stellvertreters schütteln, die kleine Tüte mitnehmen und wieder hinsetzen. Währenddessen wurden fleißig Bilder im Hochformat geschossen.
Alles in allem war das keine große Sache. Der Bürgermeister schien mir ähnlich auf dem Boden geblieben zu sein wie Richard Arnold. Es war interessant, mal eine ganz andere Art der Kommunalpolitik zu sehen. Nachdem die Gruppenbilder gemacht waren, eilte der Bürgermeister schon zum nächsten Termin und auch wir verließen das Rathaus wieder. Nach diesem Besuch war uns allen nun klar, wie wichtig den Tschechen die Politik und der Politik der Stolz ist. Für mich anfangs befremdlich, später höchst mitreißend. Die ganze Zeremonie über musste ich grinsen. Es war eine völlig ungewohnte Erfahrung, zumal ich in dieser Hinsicht ja kein unbeschriebenes Blatt mehr war.