Bergauf
Wohin führt uns der EVS? Bergauf? Und was erwartet uns auf dem Weg?
In der Ferne verschwammen die stahlgrauen Elemente zu einem Ganzen, sodass man nicht zu sagen vermochte wo der Himmel endete und das Meer begann. Im Laufe des Vormittags hatte der Regen nicht ein einziges Mal nachgelassen, und unerbittlich prasselte er auf die Dächer der Stadt, auf die Häuser, in denen es sich die Menschen vor ihren Kaminen und Fernsehern bequem machten und so die Welt außerhalb der Türen und Fenster vergaßen. An diesem so typischen Wintertag waren alle froh, dem grauenhaften Wetter zu entkommen, und nur eine einzige Gestalt war auf der Hauptstraße zu sehen, wie sie langsam die Vororte erreichte und nicht auch nur einmal innehielt. Trotz des dicken Mantels und der tief ins Gesicht geschlagenen Kapuze konnte man erkennen, dass es ein junger Mann war, der sich dort seinen Weg hinaus aufs Land bahnte, durch Reste von Schneematsch und tiefe Pfützen.
Er folgte der Straße, die sich mehrfach gabelte. Er ignorierte die kleinen, baufälligen Häuser, die dicht an dicht auf beiden Seiten der Straßen standen. Durch die Fenster zog der kalte Wind, und drinnen saßen ganze Familien im Kalten, und rastlose Großmütter beobachteten ihn auf seinem Weg. Sie saßen vielleicht schon seit Jahrzehnten an diesen Fenstern und beobachteten Nachbarn auf dem Weg zum Markt, ihre Kinder und Enkelkinder auf dem Weg zur Schule, die schlampige Tochter der Nachbarn auf ihrem Weg zum Date, aufgetakelt wie es zwar hier üblich, jedoch trotzdem nicht gern gesehen war.
Und nun dies. Ein junger Mann, offensichtlich mit einem Ziel vor Augen, der Schritt fest, der Blick stets nach vorne gerichtet, die Augen zwei einsame helle Punkte in dem von der Kapuze verdunkelten Gesicht.
Er beachtete nicht weiter dass er beobachtet wurde, und ließ die Gaffer an den Fenstern hinter sich.
Ein Fußball rollte ihm vor die Füße, ein altes Ding, die oberste Schicht schon von unzähligen Partien in Gassen und Hinterhöfen abgetragen, die Schicht darunter vollgesogen mit dem endlosen Regen. Das erste Mal an diesem Tag hielt er inne, und sein Blick schweifte umher auf der Suche nach dem Besitzer. Drei kleine Jungs lugten vorsichtig um die Ecke einer naheliegenden Mauer. Als er ihnen den Ball langsam zupasste wagten sie sich aus ihrer Deckung und stürzten sich auf den Ball, aber nach einem harten Tackling flog der Ball in einem weiten Bogen zurück. Dieses Mal nahm er den Ball mit dem rechten Fuß auf, legte ihn sich auf den Linken, tängelte ein bisschen hin und her, bis er seinen Tricksereien schließlich mit einem gekonnten Hackentrick ein Ende setzte und den Ball zurückspielte. Die Kinder schauten ihn mit weit aufgerissenen Augen an, aber als sie ihn fragten ob er mitspielen wolle sagte er er hätte weiterzugehen, er wolle heute noch ankommen.
Er ließ die kleinen, baufälligen Häuser mit den Familien, Großmüttern und Kindern hinter sich.
Er erreichte die letzten Ausläufer der Stadt, wo sich die Reichen Häuser in den Hügeln gebaut hatten, die Wohnzimmer mit riesigen Fenstern, sodass sie über die Stadt aufs Meer sehen konnten, während sie sich am Esstisch über den Hund und die Kinder des Nachbarn in Rage redeten.
Die Straße verlor sich immer öfter in kleinen Feldwegen, die zu allen Seiten abgingen und bald hinter einer Hecke oder einer Hügelkuppe aus dem Blickfeld verschwanden, und auch die Hauptstraße wurde unübersichtlicher und rauer, Kiesel und Schlamm traten vielerort an die Stelle des Teers. Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen, und der junge Mann schlug seine Kapuze zurück und hatte zum ersten Mal einen uneingeschränkten Blick über Hügel, Häuser, Hecken, Feldwege und die Straße, die nun steil bergauf führte. Das Wasser des vorangegangenen Unwetters floss an ihm vorbei in Richtung des Tals, in dem die Stadt lag. Er ließ den Blick für einen kurzen Augenblick schweifen, setzte seine Reise aber dann fort.
Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen als er das Bellen eines Hundes aus dem Garten des nächsten Hauses hörte. Der Hund rannte aus dem Blickfeld, nur um wenig später aus einer Lücke in der Hecke hervorzuspringen und sich bedrohlich vor dem jungen Mann aufzubauen.
Dort standen sie nun, Auge in Auge, er ruhig, der Hund immer noch bellend, während ihnen der Wind um die Ohren pfiff. Das war albern, er hatte keine Zeit für sowas, und couragiert machte er einen Schritt vorwärts, nur um ein bedrohliches Knurren des Labradors zu erzeugen.
Zum ersten Mal fragte sich der vorher so Zielstrebige, ob er seinen Weg fortsetzen sollte. War es das wert, er konnte genausogut in die Stadt zurückkehren und es sich auf der Couch bequem machen. Einen Film reinschmeißen. Mit nem Tee und Süßigkeiten.
Aber schon wenige Sekunden später verwarf er den Gedanken.
Der Wind hörte kurz auf zu heulen, und in der Stille hörte man über alle nahen Hügel nur noch den Hund.
Das unheimliche Knurren ignorierend passierte er ihn, und sein Herz machte einen Sprung als er ihn ein paar Meter hinter sich gelassen und erkannt hatte dass nichts passieren würde.
Er drehte sich um und lachte innerlich bei dem Gedanken, dass das ihn das fast aufgehalten hätte. Wenige hundert Meter weiter drehte er sich erneut um und betrachtete den Hund noch ein letztes Mal, der aus der Distanz und aus der höheren Position inzwischen nur noch ein kleiner Fleck auf der Straße zu sein schien.
Er ging weiter, vorbei an Weiden und Wäldern, immer den Berg hinauf. Die Straße war inzwischen zu einem Feldweg geschrumpft, auf dem er weder Autos noch Fußgänger sah.
Er schoss einen Stein ein paar Meter von sich weg, rannte hinterher, schoss noch einmal, und nachdem er das ein paar Mal wiederholt hatte flog der Stein in eine Hecke.
Nun beschäftigunglos, summte der junge Mann ein paar Melodien, während er sich zunehmend gelangweilt in der Gegend umschaute. Aber alles schien inzwischen bekannt, die Hecken versperrten den Blick, und auch die Schönheit des Weges in der beinahe unberührten Natur ließ ihn nun kalt.
Er hörte auf zu summen.
Er ging einfach weiter.
Da erreichte er eine scharfe Kurve, hinter der der Weg einen sehr steilen Verlauf nahm.
Er dachte nicht mehr nach und ging einfach weiter.
Bergauf, bergauf.
Da sah er eine Kuppe.
An der Spitze des kleinen Bergs angekommen drehte er sich um und vergaß was sein Ziel war.
Wieso er überhaupt losgegangen war, und auch der Weg hierhin erschien ihm nun kurz und er bereute fast, sich nicht öfter Zeit genommen zu haben für die Dinge am Wegesrand.
Hier stand er nun, auf einem Berg, eher einem großen Hügel, mitten im Nirgendwo.
Er schaute sich um und sah die Sonne auf den nassen Feldern glitzern und funkeln.
In der Ferne konnte er die Stadt ausmachen, wie sie dort am Mer lag und beinahe in der strahlenden Helligkeit der reflektierenden See verschwand.
Dieseerstreckte sich bis zum Horizont, und die Wolken waren gänzlich verschwunden und einem strahlend blauen Himmel gewichen.
Vor ihm breiteten sich die kleinen Wälder aus, nur unterbrochen von Feldwegen, die von Hecken und kleinen, baufälligen Streinmauern eingerahmt wurden.
Er sah all das unter sich und wusste nicht, was besser war.
Der Weg hierhin, all das Wandern und die kleinen Dinge am Wegesrand oder dieser Blick, diese Erkenntnis.
Er lächelte.
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