Begegnungen in Warszawa Centralna
Die Wirtschaftskrise macht auch vor Polen nicht halt. In Warschau hat sich eine Initiative gegründet, die Arbeitslosen eine Chance gibt.
Gleis 1 am Warschauer Zentralbahnhof. Ein wahres unterirdisches Labyrinth. Trotzdem ist es zugig. Und dazu riecht es unangenehm. Die wartenden Reisenden blicken gelangweilt auf einen Großbildfernseher. Hier lässt ein Nachrichtensender gerade Politiker mit Vorschlägen zur Wirtschaftskrise zu Wort kommen. Diese hat auch Deutschlands östlichen Nachbarn erfasst. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 10,5 Prozent - Tendenz seit Januar steigend.
Kaum jemand beachtet den weißen Pavillon etwas abseits auf dem Bahnsteig. Zwei Herren in grünen Jacken bieten hier ein Straßenmagazin an. Dies ist keine gewöhnliche Zeitung - schon gar nicht in Polen. Straßenmagazine werden von Arbeits- und Wohnungslosen verkauft und von gemeinnützigen Vereinen betrieben. Die Idee ist einfach: Journalisten und Freiwillige, aber auch Bedürftige selbst erstellen eine regelmäßig erscheinende Zeitschrift. Verkauft wird diese ausschließlich von Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben. Dies können auch Immigranten oder Menschen mit Behinderung sein. In der Regel erwerben erst die Verkäufer selbst einige Zeitungen um sie dann weiterzuverkaufen. So verdienen sie bis zu 50 Prozent des Heftendpreises. Dieses System entbindet sie nicht von Eigenverantwortung. Engagement und Kundenorientierung werden dabei belohnt. Somit sind Straßenzeitungen besser als Betteln oder Hartz IV, denn der Verkäufer erarbeitet sich seine Einkünfte selbst.
Am Warschauer Bahnhof wirbt Verkäufer Jerzy Szczawiński, einer der grün gekleideten Herren, um Kunden. "Wissen Sie, Sie sind der Vierte innerhalb von Stunden, der bei mir ein Heft kauft. Unsere Idee ist noch neu für die Leute", antwortet er auf die Frage wie der Verkauf laufe. "Aber zumindest ist es hier im Bahnhof wärmer als draußen", fügt er hinzu.
Aus den USA und England kommend sind soziale Zeitungen in den größeren deutschen Städten bereits fest etabliert. Die Verkäufer gehören zum Stadtbild und die Trägervereine halten sich eigenständig über Wasser. Manche Redaktionen führen Schulungen für ihre Mitarbeiter durch. So schaffen es einige sogar, in den regulären Arbeitsmarkt zurückzukehren. Die Zeitungen achten auf die Einhaltung von Verkaufsregeln. Aufdringliches Werben, Alkohol bei der Arbeit sowie Betteln – diese Tabus werden mit Verwarnung oder Rauswurf quittiert.
Straßenzeitungen fördern das Selbstbewusstsein der Schwächsten der Gesellschaft und ermöglichen ihnen einen Zuverdienst. Doch sie haben noch einen anderen Zweck: Die Blätter berichten hauptsächlich über soziale Not und gesellschaftliche Randgruppen. Ihr Inhalt ist nicht kommerziell. Somit sind sie ein Gegengewicht zur Tagespresse.
Die WSPAK (dt: "umgekehrt") wird seit 2008 am Warschauer Bahnhof angeboten. Und sie wird gebraucht. Besonders hier treffen sich täglich viele Wohnungslose. Doch bevor sie anderen helfen kann, muss die Zeitung auf eigenen Beinen stehen. Chefredakteurin Barbara Kaznowska berichtet über Startschwierigkeiten: "Schwierig war es, eine Rechtsform für die Zeitung zu finden, die den Verkäufern ihren Verdienst lässt. Und auf der Straße werden sie häufig mit kommerziellen Händlern verwechselt. Manche kennen das Konzept Straßenzeitung jedoch aus dem Ausland oder den Medien. Ihre Reaktion ist sehr positiv."
Hochglanzcover, alle 50 Seiten in Farbe und Beiträge auf Zeitungsniveau – die WSPAK ist aufwendig gestaltet. Das hat seinen Preis: eine Ausgabe kostet 5 Złoty (knapp 1,30 Euro). Die größten polnischen Tageszeitungen erscheinen täglich für knapp 2 Złoty. Über Werbung finanzierte Minizeitungen werden sogar kostenlos auf der Straße angeboten. Harte Konkurrenz. Und die Polen gelten nicht als ausgesprochene Zeitungsleser.
Trotzdem hat das junge Blatt Erfolge vorzuweisen. Es sind bereits drei Ausgaben erschienen. Und die Direktion des Warschauer Zentralbahnhofs hat dem Trägerverein den Raum eines ehemaligen Schnellrestaurants direkt auf dem Gleis zur Verfügung gestellt. Es geht also aufwärts. Langsam aber stetig. Das entspricht ganz dem Lebensmotto von Verkäufer Szczawiński: "Mein Vater hat mich gelehrt: Geh' aufrecht - egal wie das Leben dich auch behandelt hat."
Weitere Informationen zur WSPAK, unter anderem Videokommentare von Käufern auf www.wspak.org (in Polnisch)
Hintergründe zur weltweiten Bewegung der Straßenzeitungen: www.street-papers.org (in Englisch)
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