Auf Freunde schießt man nicht!
Warum wir Europa brauchen!
“Es gibt immer mehr Menschen, die an der Europäischen Union, so wie sie heute ist, zweifeln. Es hat überhaupt keinen Sinn, dass wir uns die Welt schönreden. Ja, die Europäische Union ist in einem schlechten Zustand, und sie muss reformiert werden. Sie muss verbessert werden. Sie ist weder sozial gerecht, noch ist sie effektiv. Und sie droht in Einzelteile zu zerfallen. (...) Es mag sein, dass Europa schlecht regiert wird. Es mag sein, dass die Europäische Union nicht in einem guten Zustand ist. Es mag sein, dass sie zu bürokratisch ist, und ganz sicher ist die EU nicht demokratisch legitimiert genug. (...) Hinzu kommt, dass der Satz, dass es keine Alternative zum europäischen Einigungsprozess gibt, falsch ist.“
Dieses sind die einleitenden Worte des berühmtesten unter uns weilenden Buchhändlers Europas – gehalten auf dem Parteitag der ältesten Partei Deutschlands, welche im Moment in Koalitionsverhandlungen steckt. Martin Schulz legt eine entflammende Rede vor, eine schonungslose Analyse und ein rhetorisches Meisterwerk, mit der Einschränkung, dass es sich der Zuhörer nicht leisten kann, auch nur einen kurzen Moment nicht zuzuhören. Schulz spricht schneller, als der durchschnittliche Zuschauer denkt. Sein Brillenmodell stammt noch aus einer Zeit, in der man sich schmückte, passionierter Europäer zu sein. Diese Zeiten sind vorbei und Schulz ist angetreten, diesen Prozess zu stoppen.
Die Geschichte der europäischen Einigung ist lang, viel zu lang um in den vorgegebene 2500 Zeichen erklärt zu werden. Sie beginnt mit Erasmus von Rotterdam, Kant streift den Europäischen Gedanken in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“. Im letzten Jahrhundert hat diese Entwicklung dann eine rasante Entwicklung genommen: Nach der „Perversität der Brillanz“ und der „Banalität des Bösen“ (beides Zitate von der jüdischen Philosophin Hannah Arendt) sollten eine Westintegration Deutschlands eine erneute humanitäre Katastrophe verhindern. Seit knapp 70 Jahren hat sich diese Konstruktion bewährt, aus Feinden sind Freunde geworden. Die sichtbar werdenden Gegenströmungen sind keine Strohfeuer, wir dürfen nicht von nur ein paar irregeleiteten Stimmen sprechen. Kritische Stimmen befördern die Diskussion um Europas Zukunft, wir brauchen diese Diskussion, um über unsere Zukunft zu sprechen. Die simple Frage lautet: Welches Europa wünschen wir uns für unsere Enkelkinder?
Unsere Großväter haben diese Frage in den vergangenen Dekaden beantwortet – wir stehen am Scheideweg ihre Entscheidung gutzuheißen oder ihre Entscheidungen zu redigieren. Die Gründe sind offensichtlich: Europa bedeutet Frieden, wirtschaftlicher Wohlstand und eine machtpolitische Perspektive. Ohne die europäische Einigung gäbe es für viele europäische Nationen – inklusive Frankreich und Deutschland – keine offenes Ohr in Washington, Peking oder Neu-Dehli. Zur Wahrheit gehört auch, dass eine tiefergehende europäische Einigung natürlich mit einem Verlust von Freiheit einhergeht, aber ist „Freiheit nicht (auch) die Einsicht in die Notwendigkeit“ (Hegel)? Diese Notwendigkeit zeigt sich doch in machtpolitischen Fragen: Was kann eine einzelne europäische Nation den wirtschaftlich aufstrebenden BRICS-Staaten schon entgegensetzen? Oder mit anderen Worten: Warum sollte sich die zweitgrößte Demokratie der Welt mit den Sorgen Maltas auseinandersetzen? Wenn wir uns zumindest am internationalen Wettbewerb beteiligen wollen, geht das nur als Union, eine europäische Nation ohne Verbündete hat keine Chance, insbesondere seit dem wir einen Niedergang des Renommees Amerikas erleben müssen wir feststellen, dass Europa auf sich allein gestellt ist.
Der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher prägte den Satz „Europa ist unsere Zukunft, sonst haben wir keine.“ Für seine Generation ist es selbstverständlich, für Europa zu stehen. Die europäische Integration gehört für diese Generation zum Wertekanon jeglicher Couleur. Diese Selbstverständlichkeit ist verschwunden, nur wenige Spitzenpolitiker gelten als passionierte Europäer. Man darf davon ausgehen, dass Bundeskanzlerin Merkel in erster Linie die machtpolitische Bedeutung berücksichtigt, Wolfgang Schäuble ist – wie Helmut Schmidt oder Martin Schulz - einer der wenigen herausragenden Persönlichkeiten, die sich für Europa engagieren. Sie wissen: Auf Freunde schießt man nicht!