Angenervt
Ich kann mir nicht helfen, aber seit Anfang Juni bin ich irgendwie ein wenig auf Krawall gebürstet, naja, so schlimm nun wieder auch nicht, aber auf jeden Fall bin ich angenervt. Von Ungarn.
Diese Tatsache bzw. Zustand finde ich sehr interessant, da ich ihn nicht erwartet habe. Aus Erzählungen und Erfahrungen von Ex-Freiwilligen wusste ich, dass natürlicherweise ein Motivationstief kommt, das bei der Arbeit nicht immer alles Spaß macht und dass es irgendwann nichts mehr Spannendes ist, mit dem Bus zu fahren. Doch von keinem habe ich gehört, dass er oder sie vom Gastland angenervt ist. Am Anfang war ich erschrocken über mich selbst, doch mittlerweile betrachte ich das einfach als eine Phase, die zu einem Auslandsaufenthalt dazu gehört.
Da es mir danach bestimmt besser gehen wird, zähle ich jetzt alles auf, was mich nervt.
Das ungarische Essen. Der Vegetarier- und Veganertrend ist in Ungarn mit Ausnahme von Budapest noch nicht angekommen. „Hauptsache Fleisch!“, ist hier noch die allgemeine Meinung und das bitte viel und günstig. Als ich mit dem Orchester in Bulgarien war und es nach sechs Tagen im Transithotel in Sofia endlich richtigen Salat zum Abendessen gab, war ich die glücklichste Person auf der Welt, während sich die ungarischen Kinder beschwert haben, wo denn das Fleisch bliebe…
Die ungarische Meinungslosigkeit. Ein sehr großes Problem, was ich hier beobachtet habe ist, das die Kinder in der Schule nicht lernen, wie man sich eine eigene Meinung bildet. Dementsprechend haben sie auch oft keine Meinung. Und dann ist es extrem langweilig, sich zu unterhalten.
Betrunkene Männer abends in Veszprém. In den letzten zwei Wochen bin ich dreimal abends in Veszprém am Busbahnhof von betrunkenen mittelalten Männern angesprochen worden. Betrunkene Menschen am Abend sind ja schon in Deutschland nicht angenehm, aber wenn man sie nicht versteht und nichts antworten kann, dann ist das nochmal mehr nervig. Im Winter ist mir das nur ein paar Male passiert, aber seitdem es im Sommer nicht mehr zu kalt draußen ist, treffen sich die ganzen Biertrinker gerne am Busbahnhof. Irgendwie nicht so schön.
Das ungarische Niedlichkeitssyndrom (was für ein schöner Neologismus! :)) Für die Ungarn bzw. vermehrt für die ungarischen Frauen ist immer alles gleich „aranyos“ (goldig), „cuki“ (süß), „édes“ (nochmal süß) und „kicsi“ (niedlich). Kleine Kinder stehen auf der Hitliste natürlich ganz oben, aber auch wenn eine Katze über die Straße läuft, heißt es sofort „Jajj, de aranyos“ („Nein, wie goldig!“) Dabei ist es doch nur eine blöde Katze! Oft werde auch ich als „kislány“ (kleines Mädchen) bezeichnet. Dabei ist es auffällig da “kleines Mädchen“ schon ein eigenes Wort ist, (kis=klein und lány=Mädchen) was zeigt, wie sehr der Diminutiv in der ungarischen Sprache verankert ist. Auf die Dauer, wird dieses ganze Verniedlichen echt anstrengend.
Verhältnis zwischen Mann und Frau. Besonders bei den älteren Menschen ist das Verständnis vom Geschlechterverhältnis noch sehr vom alten Rollenbild geprägt. Das zeigt sich besonders, dass die Männer beim Einsteigen in den Bus immer auf die Frauen warten und nach ihnen einsteigen. Außerdem kann man als Frau vergeblich versuchen, hinter einem Mann durch die Tür zu gehen, denn sie versuchen alles, die Frau vorzulassen. Natürlich ist das alles sehr höflich und respektvoll, wovon sich die Herren in Deutschland ruhig eine Scheibe abschneiden können. Wenn man es allerdings kleinkariert betrachtet, dann sind Frauen und Männer dadurch nicht gleichberechtigt. Das stört mich.
Ungarischer Nationalstolz. In so ziemlich überall in Europa (und auf der Welt) sind die Menschen stolz auf ihr Land, mal mehr und mal weniger stark ausgeprägt. In Deutschland gibt es Nationalstolz aufgrund des Zweiten Weltkriegs allerdings eher weniger und deswegen ist es für mich immer ein wenig schwer nachzuvollziehen, warum ich stolz auf „mein Land“ sein soll. Aber für die Portugiesen, Franzosen, Spanier, Italiener sowie Ungarn ist das ganz normal. Das ist ja an sich auch nichts Schlimmes, wenn es aber zu viel wird, dann kann es gefährlich werden. Was mich daran nervt ist, dass viele Ungarn der Meinung sind, Ungarn ist das beste Land überhaupt und ungarisch ist die einzig wahre Kultur. Dabei wird Verständnis für andere Lebensweisen eher erschwert. Zum Beispiel haben sich die ungarischen Kinder in Bulgarien beschwert, warum die Geschäft hier denn keine Forint aktzeptieren…
Umgang mit Migranten und Minderheiten. Eng mit dem obrigen Punkt verknüpft ist der Umgang mit Migranten und Minderheiten in Ungarn. Da wäre natürlich einmal die größte Minderheit der Roma. Um darüber ordentlich zu berichten, fehlen mit die Daten und Fakten, (das möchte ich aber noch nachholen) allerdigns habe ich schon so viel mitgekriegt, dass sie oft in Ghettos leben und sie mit vielen Vorurteilen zu kämpfen haben. Genauso wie Sinti, die in Ungarn noch Zigeuner nennen. Sinti und Roma ist schon fast ein Synonym für Leute, die arm sind, die stehlen, die dumm sind und die weniger wert sind. Hallo?! Wir leben im 21. Jahrhundert! Trotzdem ist in Ungarn soziale Ausgrenzung Alltag. Dunkelhäutige Menschen oder Flüchtlinge aus Nahost kann man in Ungarn ebenfalls vergeblich suchen. In Nagyvázsony habe ich noch nie jemanden gesehen und nur ab und zu mal in Veszprém. Die Wahlplakate der Fidesz-Partei haben ebenfalls dafür geworben, die (nicht vorhandene) Einwanderung der Migranten nach Ungarn zu stoppen. Und da die Leute keine eigene Meinung haben (siehe oben) glauben sie das auch und sind überzeugt. Gruselig…
Ich glaube, für jetzt war es das erstmal. [] Wie schon gesagt, bei all den Punkten, überwiegt dennoch das Gute uund es gefällt mir nach wie vor noch sehr gut in Ungarn und hier in Nagyvázsony. Aber man muss auch immer beide Seiten betrachten.