Amélie in Istanbul
Ein franzöisches Liedchen erklingt mitten in der Nacht im asiatischen Teil Istanbuls. Zwei Mädchen betrachten schweigend den Sonnenaufgang. Rasensprengernasse Körper tanzen in allen Sprachen. Ein Geschichtenessay, der von zwei Wochen Istanbul und dem wirklichen Verdienst der Musik erzählt.
Irgendwann fanden Dilara und ich uns in einem kleinen Raum im künstlerischen Flügel der Universität wieder, in dem sich außer vielen halb zerbrochenen Stühlen und Stativen noch ein recht verstimmtes Klavier befand. Mir war vor Müdigkeit das Englische ausgegangen und so begann ich, um der Stille vorzubeugen, die Titelmelodie aus Die zauberhafte Welt der Amélie zu spielen. Die Musik aus einem Film, den sich in Deutschland fast jeder irgendwann einmal ansehen hat, der Dilara aus der Türkei aber völlig unbekannt war. Doch es gefiel ihr. Immer und immer wieder spielte ich die Fragmente der Melodie, die noch in meinem Kopf steckten. Ein französisches Liedchen, mitten in der Nacht im asiatischen Teil Istanbuls erklungen, die Situation erschien mir keineswegs surreal.
Wenn ich heute die E-Mails Dilaras lese, spüre ich eine Mischung aus Erleichterung und Hilflosigkeit. Erleichterung, weil ich nicht in diesem, sondern im letzten Jahr zwei Wochen in der Sabanci-Universität verbracht habe und somit nicht Gefahr lief, von Wasserwerfern getroffen zu werden, während ich den Taksim-Platz erkundete; Hilflosigkeit, weil ich Dilara und all den anderen außer Worten keine Unterstützung bieten kann, wenn sie im und um den Gezi-Park protestieren.
Stattdessen schaue ich wieder die Fotografien an.
Die summer school an der Sabanbci-Universität - eine Mischung aus Kursen, Kennenlernen und Kulturerleben - wird jedes Jahr einer großen Gruppe deutscher Schüler von der Robert-Bosch- und der Mercatorstiftung finanziert; die türkischen Schüler bezahlen meist selbst für den Aufenthalt. Es geht um Lernen, Staunen und „Brücken bauen“. Letzteres erwies sich aber schwieriger als gedacht. Man hatte Deutsche und Türken getrennt in den Fluren des Wohnheims untergebracht, wer keine englischen Kurse gewählt hatte, musste gar nicht zwangsweise in Kontakt mit den einheimischen Jugendlichen treten. Die Angst vor Sprachbarrieren, Missverständnissen und Uncoolness, wie ich es nenne, stand dem im Wege, was sich die Betreiber des Projekte als ganz einfach vorstellen: Dem kulturellen und persönlichen Austausch.
Es waren schließlich drei vielleicht zwölfjährige Mädchen, die abends auf den Fluren vor unseren Schlafräumen ein Sommerkleid meiner Zimmergenossin bewunderten. Sie sprachen kaum mehr Englisch als einige Wörter, und nach dem Austausch der Namen und aufgeregtem Deuten auf verschiedenste Teile ihres Outfits breitete sich peinliche Stille aus. Schließlich war es die Musik, die das Eis brach und schaffte, was die ehrgeizigsten kulturellen Programme und Ausflüge nicht hinbekommen hätten – es erklang ein lautes Wummern von draußen, wo man auf der Wiese unter laufenden Rasensprengern Boxen aufgestellt hatte. Wir rannten hinaus und im Vibrieren der Bässe und der Menge der hüpfenden, brüllenden, tanzenden Leiber waren Nationalitäten nebensächlich geworden. Noch jetzt lache ich beim Anblick der einige Stunden später aufgenommenen Fotos, auf denen wir Arm in Arm mit den kleinen türkischen Mädchen stehen; schwitzend, rasensprengernass, die Füße schlammverschmiert. Für mich war daraufhin ein Damm gebrochen, ich überwand meine Schüchternheit – wenn ich mich ohne Worte und nur durch das Tanzen mit drei kleinen Mädchen verständigen konnte, dürfte es bei den Älteren nicht schwer werden.
Ich traf Dilara, den wohl fanatischsten Harry-Potter-Fan der Welt und eine Seelenverwandte auf den ersten Blick. Sie war in meinem Alter, sie teilte meine Liebe zu Science-Fiction-Romanen und ich ihre Abneigung gegenüber Schulsport. Es war Ramadan. Ich fastete nicht mit, aber zweimal nahm ich nach Nächten des Wanderns über den riesigen, protzigen, inselartig im asiatischen Teil der Stadt gelegenen Komplex der Uni vor Sonnenaufgang das Frühstück mit Esma zu mir. Esma, die Ärztin werden wollte, in ihren bodenlangen, weiten, alles bedeckenden Kleidern mit dem fest sitzenden Kopftuch uns allen an Moral und Klugheit so weit voraus. Die mich in meiner Ansicht über die auf dem deutschen Arbeitsmarkt viel diskutierte Kopftuch-Verbots-Frage eine 180-Grad-Wende einlegen ließ, eine Grenze, von der ich nie geahnt hätte, sie zu überschreiten.
Natürlich gab es auch Rückschläge. Meine deutsche Zimmergenossin und ich verirrt in einem ärmeren Viertel nahe der archaischen Stadtmauer, die Blicke der auf den schäbigen Balkonen sitzenden Männer auf unseren Körpern, dann, während wir verständigungssuchend einer Gruppe Kinder zulächelten, der Zehnjährige mit dem starren Gesicht: „Sex“ rufend– und unsere Überlegungen von Verständnis, Hilfe, Dialog verwandelt in Angst und den puren Drang, weg zu kommen. Istanbul, das waren so viele Welten in einer, Dilaras und die des Zehnjährigen himmelweit voneinander entfernt. Und die Mauern um die Universität schienen den Elite-Komplex plötzlich mehr abzuschirmen als zu schützen.
Aber derartige Erlebnisse hatten wenig zu tun mit Europa oder Asien, Reichtum und Armut: Als wir uns zwischen den Aberhunderten von Bussen in Kadiköy, dem asiatischen, am Hafen gelegenen Stadtviertel, nicht mehr zurecht fanden, fragten wir mit gesenktem Blick und jederzeit bereit, das Weite zu suchen, eine Gruppe von Busfahrern nach dem richtigen Fahrzeug. Busfahrer in Istanbul haben sicher nicht genug Geld, ihre Kinder im Sommer zur summer school zu schicken, und auch sonst keine Gründe, die deutschen Touristinnen zu unterstützen. Uns aber überrollte eine Welle von Hilfsbereitschaft, die ich maximal an schwedischen Hotelrezeptionen erwartet hätte. Einer der Busfahrer telefonierte gar mit seiner Freundin, einer Angestellten in der Uni, um sich von ihr den Weg zu unserer Haltestelle erklären zu lassen und brachte uns zwei lange Straßen weiter bis zum richtigen Ort, so zuvorkommend, dass es uns fast peinlich war. Wie wir uns später unserer Vorurteile schämten und gleichzeitig so froh waren über unsere Überwindung, die „Einheimischen“ anzusprechen!
Oft sind es diese Busfahrer, die mir im Kopf herumspuken, wenn hierzulande das Wort Migrant gleichbedeutend mit böse, unfreundlich, verdächtig und wahrscheinlich kriminell und verwendet wird. Früher wären mir derartige Äußerungen sicherlich auch nicht über die Lippen gekommen, aber nach zwei Wochen in Istanbul lassen mich solche Unterstellungen wirklich in Rage geraten. Auf den Fernsehbildschirmen betrachte ich den Taksim-Platz mit Sorge und Sehnsucht zugleich.
In der letzten Nacht vor dem Abflug blieben Dilara und ich wach, redeten über alles und nichts, stritten über den möglichen Beitritt der Türkei zur EU, umwanderten das Areal wieder und wieder. Sie selbst brachte Atatürk auf, ein Thema, das anzusprechen ich mich nie getraut hätte, so leicht konnte man mit minimaler Kritik an der Führungsfigur die Bewohner der Türkei gegen sich einnehmen. Ich brachte ihr etwas Klavier bei und sie mir die wichtigsten türkischen Schimpfwörter (allerdings etwas zu spät, war doch mein Aufenthalt fast beendet), und schauten uns schließlich, zu müde zum weiteren Englischsprechen, schweigend den unvergleichlichen Sonnenaufgang an.
Wir hatten keine großen Probleme gelöst, keine Weltgeschichte geschrieben, keine Politik gemacht, aber die Barrieren zwischen uns beiden waren in dieser Nacht verschwunden.
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