Alcageddon
Mein Aufenthalt neigt sich langsam dem Ende zu und das Armageddon von Alcalá rückt immer näher.
6 Wochen sind seit meinem letzten Blogeintrag vergangen. Abgesehen von den 5 Wochen, die ich davon in Alcalá verbracht habe, war es eigentlich gar keine so schlechte Zeit. Mitte November war ich eine Woche zu Hause und habe mächtig auf den Putz gehauen, die restliche Zeit in Alcalá war allerdings die Hölle.
Es muss Anfang November gewesen sein, als ich endgültig den Anschluss in der Uni verloren habe und ab da nur noch pro forma zu den Lehrveranstaltungen hingegangen bin.
Es waren noch nicht mal ganz zwei Monate des 1. Semesters vorbei und schon bin ich in der Uni komplett abgesoffen. Aufgeben wollte ich jedoch nicht so schnell und habe während der letzten Wochen erfolglos versucht meinen Rückstand aufzuholen.
Mittlerweile steht fest, dass ich nach dem ersten Semester definitiv nach Hause zurückkehren werde. Die Idee stand schon länger im Raum. Bevor ich im November nach Hause geflogen bin habe ich mich schon mal vorsichtshalber von allen verabschiedet weil ich so abgegessen war, dass ich nicht dafür garantieren konnte wiederzukommen. Am 19. November landete ich dann allerdings doch wieder am Madrider Flughafen, fest entschlossen wenigstens ein Semester hier zu einem würdevollen Ende zu bringen und vielleicht doch noch die Kurve zu kriegen. Es blieben mir ja auch nur noch 4 Wochen + Prüfungen im Januar. 4 Wochen Acalá! Donnerlüttchen, was war ich naiv! Während der Tage zu Hause hatte ich wohl erfolgreich verdrängt, wie aussichtslos mein Kampf hier ist und mir eingeredet, es wider jede Warhscheinlichkeit schaffen zu können. Ich verstehe echt nicht, worauf ich meinen Optimismus gegründet habe. Jetzt sind die letzten 4 Wochen des Semester jedenfalls fast vorbei und meine Nerven hinüber.
Ich hätte schön zu Hause bleiben sollen. Das Vorhaben, das Semester hier zu Ende zu bringen, kommt aus der Rückschau einem akademischen Selbstmord gleich. Als hätte ich mich nicht die erste Hälfte des Semesters schon zu Genüge selbstgegeißelt.
Es ging schon am Berliner Flughafen los. Das Boarding verzögerte sich erheblich weil Berge von Handgepäck verstaut werden mussten. Weil in meiner Reihe kein Platz mehr war, wurde mir mein kleiner Ziehkoffer von einer Stewardess abgenommen und am anderen Ende des Fliegers verstaut. Meinen Mantel musste ich in eins der Gepäckfächer quetschen und gerade als ich meinen Umhängebeutel mit meiner Wasserflasche und einem Buch unter den Vordersitz legen wollte, wurde ich dazu aufgefordert, mich in die Mitte des Flugzeuges zu setzen, weil da angeblich mehr Platz war.
Vor dem Aussteigen holte ich meinen Beutel vom anderen Ende des Flugzeuges, dachte auch an den Koffer ganz vorne, vergaß allerdings meinen Mantel im Gepäckfach. Ja, es war mein Fehler, aber wie soll man denn da auch den Überblick behalten, wenn einem das Gepäck im ganzen Flieger umherverstreut wird.
Außerdem war es Mitte November und ich hatte mich noch nicht wieder daran gewöhnt einen Mantel zu tragen. Nach der Landung hatte ich eigentlich auch erstmal im Kopf meinem Freund Markus kurz übers Handy zu schreiben, dass ich gut angekommen bin, musste allerdings feststellen, dass meine spanische SIM-Karte schon wieder nicht funktionierte, was zwar ärgerlich war, aber lange nicht das erste Mal und deshalb auch keine große Überraschung.
In der Flughafenhalle fiel mir dann der Mantel ein. Zu spät. Durch die Schranken war ich schon durchgegangen, zurück zu den Gates kommt man nicht so ohne Weiteres.
Es war 19 Uhr und ein paar Zerquetschte und weil ich wusste, dass es immer dieselben Maschinen sind, die auf einer Strecke hin und her pendeln, und sah, dass in wenigen Minuten das Boarding einer Maschine nach Berlin begann, kriegte ich Riesenpanik, dass jetzt mein Mantel ohne mich nach Berlin zurückfliegt.
Ich rannte wie bekloppt nach oben zu den Schaltern von Easyjet und fragte, ob ich noch mal in die Maschine aus Berlin könnte um meinen Mantel zu holen.
„Nein, da ist jetzt schon Boarding, aber ich rufe mal kurz beim Boardpersonal an ob die was gefunden haben“ Sekunden vergingen. „Von einem Mantel wissen wir nichts, aber fragen Sie doch mal beim Kollegen vom Fundbüro in Halle 2 nach, vielleicht weiß der mehr.“
Ich also wieder nach unten gehechtet und immer dem Schild „Halle 2“ nach, wo ich ursprünglich hergekommen war. Schließlich kam ich wieder an die Automatiktür mit Sichtblende, die sich nur von innen öffnete, wenn jemand aus der Halle herauskam. Neben der Tür stand soviel wie „Nur Ausgang – Zutritt strengstens untersagt“. Zusätzlich gab es eine Absperrung die den Abstand zur Tür markierte, den man als Nichtpassagier (z. B. Leute, die jemanden abholen) halten musste.
„Ja, klasse, wer kommt denn auf so eine bekloppte Idee das Fundbüro in Halle 2 unterzubringen, wenn man da nur nach dem Aussteigen aus dem Flugzeug durchkommt, aber nicht von der Haupthalle aus reingehen kann?“
Ich schaute mich nach Flughafenpersonal um. Niemand zu sehen. Die Tür öffnete sich ab und zu, wenn jemand herauskam, doch ich wagte nicht durchzuschlüpfen. Wie hätte es ausgesehen, wenn jemand am Flughafen eine Absperrung missachtet und unkontrolliert in den Sicherheitsbereich eindringt? Ich wollte keinen Stress. Nicht mehr als ich ohnehin schon hatte. Neben dem Eingang zu Halle 2 gab es eine Apotheke. Ich ging hinein und fragte, ob es noch einen anderen Eingang zu Halle 2 gibt oder ob mir jemand aufmachen kann, ich muss zum Fundbüro. „Fundbüro?“, fragte die Angestellte. „Na das ist doch hier den Gang runter, nach links“.
Ich also wieder den ganzen Gang runter, bis ich schließlich zu meiner großen Verwunderung tatsächlich einen Schalter fand, wo Fundbüro dran stand. „Wo Fundbüro draufsteht muss ja eigentlich auch Fundbüro drin sein“, dachte ich und betätigte die Tischklingel. Eine Frau kam um die Ecke, ich erklärte kurz meine Situation, doch sie schaute mich einfach nur verständnislos an, so als gäbe es nichts Natürlicheres in der Welt, als sich am Flughafen über Sicherheitsvorschriften hinwegzusetzen. „Na dann klopfen Sie halt an der Tür, bevor Sie reingehen. Da wird schon jemand sein“. Ich also wieder zurück zu Halle 2, angeklopft, gewartet, angeklopft, Tür geht auf, Leute mit Koffern kommen raus, von Flughafenpersonal keine Spur.
Trotz des „Betreten verboten“-Schildes bin ich dann einfach rein und wurde sofort vom Sicherheitspersonal geschnappt, das offenbar die ganze Zeit in aller Gemütlichkeit neben der Tür gehockt und mein Klopfen ignoriert hatte.
„Ich möchte nur zum Fundbüro“ rechtfertigte ich mich, um allen weiteren Schwierigkeiten vorzubeugen, woraufhin man mich passieren ließ. Bis zum Fundbüro von Halle 2 waren es nur noch ein paar Schritte. Am Schalter saß ein dicker Kerl, der offensichtlich in ein hitziges Telefongespräch privater Natur verwickelt war und mich etwa zwei Minuten lang ignorierte.
„Hallo ich möchte meinen Mantel abholen“, sagte ich energisch, bemühte mich aber freundlich zu klingen. Er drückte den Hörer kurz auf die Brust, sagt in meine Richtung:
„Hier ist kein Mantel, tut mir leid, versuchen Sie es draußen, da ist noch ein Fundbüro!“ und telefonierte weiter.
Ich ließ mich nicht abwimmeln und insistierte: „Ich war gerade beim Checkin-Schalter von Easyjet. Die meinten, dass ich ihn hier abholen kann.“
„Warten Sie mal kurz“, gab er zurück, diesmal ohne den Hörer wegzulegen. Er beendete das Gespräch, legte genervt auf und wählte eine Nummer. Nach ein paar Sätzen meinet er zu mir „also die haben ihren Mantel, aber er ist noch in einem anderen Fundbüro und wird erst später hier abgegeben.“
„Zum Kuckuck, wie viele Fundbüros gibt es denn an diesem Terminal?“ meinte ich und fragte, wie lange ein Mantel normalerweise braucht, um von Fundbüro A zu Fundbüro B zu kommen. „Es könnte sein, dass er morgen schon hier ist, aber es kann auch länger dauern. Und Abholzeiten sind generell nur von 11 bis 12 und von 17 bis 18 Uhr. Rufen Sie besser an und fragen nach, ob der Mantel schon hier ist, bevor Sie sich auf den Weg machen.", empfahl er mir.
Tja, wenn man doch in einem Land wäre, in dem einem ausnahmsweise auch mal eine funktionierende SIM-Karte verkauft wird, dachte ich bei mir. Anrufen fiel schon mal flach.
Ich bereute schon wieder, überhaupt zurückgeflogen zu sein. Und es war gerade halb 8 und damit erst eine halbe Stunde her, dass ich wieder spanischen Boden unter den Füßen hatte.
Laut Fahrplan, hätte jeweils um 19:40 und um 20:10 ein Bus Richtung Alcalá fahren müssen. In der Woche, in der ich in Berlin war, war es in Spanien Winter geworden und ich war froh, nicht lange in der Kälte stehen zu müssen. Pustekuchen. Über eine Stunde habe ich mir, ohne Mantel wohlgemerkt, an der Haltestelle den Arsch abgefroren.
Erst kurz nach halb neun kam ein Bus und hat mich nach Alcalá gebracht. Abgesehen davon, dass er entgegen dem Fahrplan dann doch nicht bis zum Studentenwohnheim sondern nur bis zum Zentrum gefahren ist und ich noch eine halbe Stunde zu Fuß durch die Kälte marschieren musste, verlief der Abend ohne weitere Vorkommnisse.
Am nächsten Tag bin ich extra vor der Uni zum Orange-Shop gegangen, um zu klären, warum meine mittlerweile zweite SIM-Karte in zwei Monaten zum dritten Mal wieder nicht funktioniert, aber natürlich hatte dieser Saftladen noch zu und öffnete erst mit Beginn der ersten Lehrveranstaltung. Damit war klar, dass ich entweder auf Gut Glück zum Flughafen fahren oder erstmal die Angelegenheit mit der SIM-Karte klären und den Mantel vor morgen nicht wiedersehen würde.
Eigentlich hätte ich es nicht so eilig gehabt, die Sache war nur, dass es so extrem kalt war. Die Temperatur lag nur ein paar Grad über Null und das ist für Mitte November in Spanien echt ein Rekord. Ich habe gefroren wie Sau und wollte keinen Tag länger auf meinen Mantel warten müssen, verließ die Uni eine halbe Stunde früher und rannte zur Haltestelle wo der Flughafenbus abfuhr. Um 10:40 Uhr sollte ein Flughafenbus kommen. Als kurz nach 11 noch immer jede Spur von dem Bus fehlte, wurde ich langsam nervös. Ich wusste zwar vorher, dass der Flughafenbus sich in Sachen Unzuverlässigkeit schon öfter ein Denkmal gesetzt hatte, aber als es 11:10 wurde, hätte eigentlich schon der nächste kommen müssen. Um 11:15 kam dann einer. Natürlich war ich auf diese Weise nicht wie geplant um 20 nach 11 am Flughafen sondern erst kurz vor 12. Ich rannte wie von der Tarantel gestochen durch die Eingangshalle, vorbei an der Absperrung, schlüpfte durch die Automatiktür, grüßte das Sicherheitspersonal und kam eine Minute vor 12 Uhr am Schalter des Fundbüros Halle 2 zum Stehen.
Ich bekam den Mantel sofort ausgehändigt und beeilte mich zurück zur Bushaltestelle zu kommen, weil laut Fahrplan zehn nach 12 der nächste Bus nach Alcalá zurückfahren sollte. Mir war natürlich klar, dass ich mich darauf nicht 100-prozentig verlassen konnte aber eine letzte Chance wollte ich dem Bus noch geben.
Als um halb zwei der Bus endlich kam, war ich trotz Mantel komplett durchgefroren und den Tränen nahe. Ich war keine 24 Stunden in diesem Land und fühlte mich schon reif für die Anstalt.
Die darauffolgenden Tage vergingen ereignislos. Vormittags Uni, nachmittags Hausaufhaben. Der Alltag hatte mich wieder. Meine optimistischen „Das-mit-der-Uni-wird-schon-alles"-Gedanken, die ich in Berlin getankt hatte, konnte ich mir noch vor dem Wochenende von der Backe putzen und auch die Atmosphäre im Studentenwohnheim zeigte keine Anzeichen auf Besserung. Dass das Internet hier mehr Aussetzer hat als Öttinger beim Englischsprechen, hatte ich ja schon mal erwähnt. Seit November steht allerdings auch fest, dass das Wohnheim über keine funktionierende Heizungsanlage verfügt.
Wie ich ja schon gesagt hatte, ist es hier für die Jahreszeit und den Breitengrad ungewöhnlich kalt geworden. Seit einiger Zeit gibt es hier sogar Nachtfröste (!) und an manchen Tagen war es so kalt hier, dass ich in der Küche alle Herdplatten angemacht und mich zum Hausaufgabenmachen mit Bettdecke daneben gesetzt habe. Seitdem in den letzten Wochen wiederholt Heizungsinstallateure im Studentenwohnheim ein- und ausgegangen sind, funktioniert die Heizung in den meisten Gebäuden zwar wieder, aber in unserem Haus kommt statt Wärme nur schmutziges Wasser aus den Heizkörpern, das sich in großen Lachen auf den Fußböden ausbreitet und zum Gotterbarmen stinkt. Ferner ist vor zwei Wochen der Duschkopf aus der Wand gebrochen, die Klospülung läuft ohne Unterlass, das Licht in unserem Zimmer geht nicht mehr und in der Küche tropft der Wasserhahn. Aber ich will nicht klagen. Die Nachbarn gegenüber haben kein Warmwasser mehr. Schön zu wissen, dass es welche gibt, die noch beschissener dran sind. Was mich allerdings richtig stört, ist, dass nicht ein Fenster in diesem Haus richtig schließt, was besonders nachts, wenn die Temperatur unter Null sinkt, unangenehm ist, weil ich direkt am Fenster schlafe. Aber in unserem Zimmer, also dem Zimmer, das mein Mitbewohner und ich uns teilen, ist so wenig Platz, dass man die Betten nicht umstellen kann. Dieses Haus ist eine einzige Abfuckbude.
Unser neuer Mitbewohner aus Japan hat sich zwischen Fenster und Gitter (Hatte ich schon erwähnt, dass alle Fenster des Studentenwohnheims genau so vergittert sind wie bei der Jugendstrafvollzugsanstalt Tegel?) mehrere auseinandergefaltete Pappkartons geklemmt, um sich gegen den kalten Zug zu schützen. Im Laufe der Zeit sind die Pappkartons verrutscht und durch den Regen teilweise aufgeweicht und zerfleddert. Es sieht fürchterlich aus, aber auf diese Weise kommt anscheinend weniger kalter Zug rein. Allerdings auch kein Licht mehr und Rausschauen ist auch nicht mehr. Auch von außen ist das mit Pappkartons verbarrikadierte Fenster mit Gitter wirklich keine Augenweide, aber man sieht das Fenster nur von der Dachterrasse aus, die wir im Winter eh nicht benutzen, weshalb sich keiner daran stört. Keiner bis auf meinen Mitbewohner, der mir gestern in seiner ihm so typischen wichtigtuerischen Art mitgeteilt hat, dass man die Pappkartons eigentlich unangekündigt entfernen müsste.
Als ich zu ihm meinte, dass das a) nicht seine Kartons sind, b) nicht sein Fenster ist und ich c) nicht den geringsten Grund sehe, was sein Problem damit ist, meinte er nur: „Das kann ich so nicht akzeptieren, das dulde ich nicht. Hier kann doch nicht jeder mit seinem Fenster machen, was er will." „Schau mal, wenn du Vermieter bist, dann kannst du doch auch nicht zulassen, dass deine Mieter ihre Fenster zumüllen!“, empörte er sich rechthaberisch. „Du bist hier aber nicht Vermieter“, erinnerte ich ihn. „Trotzdem, das dulde ich nicht!“, gab er eingeschnappt zurück.
Ich muss dazu sagen, dass es ne ganze Menge Sachen gibt, die mein Mitbewohner nicht duldet, obwohl sie ihn absolut nichts angehen. Der Japaner kann froh sein, dass es nur um seine Pappkartons geht, ich hingegen teile mir ein Zimmer mit Mister Kontrolleti und solange das der Fall ist, werde ich sicherheitshalber über unser Zusammenwohnen keine Details veröffentlichen. Außerdem gibt es mehr als genug anderes über den Japaner zu berichten. Ich gebe zu, ich habe ne ganze Weile ziemlich viel durchgehen lassen und vielleicht bin ich auch selbst Schuld, den Punkt verpasst zu haben, wo man hätte einschreiten können, aber die Entwicklungen der letzten Tage gehen echt zu weit. Es geht hier schon lange nicht mehr um Kartons, sondern dass ich mich wirklich von diesem Typen bedroht fühle.
Sein Einzug Ende September war der Anfang vom Ende. Da stand jemand vor uns, der weder eine andere Sprache als Japanisch beherrschte noch bereit war das auch zuzugeben.
Ich habe mir anfangs Mühe gegeben, ihm mit einfachen Worten zu erklären und zu zeigen wie man Müll trennt und dass sich schmutziges Geschirr nicht von alleine abwäscht, woraufhin er immer nur „Oh, ah, si, si, claro“ von sich gab. Es war wie in einem Witzblatt. Man erklärte ihm am Montag das Essenreste nicht in die Spüle gehören, er hörte interessiert zu, nickte eifrig und sagte „oh, ah, si, si, claro“ und am Dienstag verstopften schon wieder Fischinnereien den Abfluss. Nachdem ich und die andere Mitbewohner zwei Wochen lang erfolglos versucht hatten, ihm die Grundzüge eines WG-tauglichen Verhaltens nahezulegen, kam uns der Verdacht, dass er wahrscheinlich kein Wort von dem verstanden hatte, war wir ihm sagten, aber zu höflich war, das zuzugeben. Wie hätte er das auch das tun sollen, wo er anscheinend weder Englisch noch Spanisch kann. Ob man nicht vielleicht auch ohne Sprachkenntnisse verstehen oder von vornherein wissen könnte, dass man die Küche so verlässt, wie man sie vorfinden möchte, habe ich mir damals nicht so klargemacht. Seit Kurzem steht der Verdacht im Raum, dass er bei Weitem nicht so wenig versteht wie er vorgibt. Was ich erst für falsche Höflichkeit gehalten habe, scheint mir mehr und mehr absolutes Desinteresse am WG-Leben zu sein, dass er nicht offen formuliert, indem er sich dumm stellt und immer „oh, ah, si, si, claro“ sagt. Im Laufe der Zeit scheint sich das Desinteresse in Aggression gewandelt zu haben. Immer öfter hört man im ersten Stock Randale, es klingt als würde sich eine Großfamilie zoffen, dabei ist der Japaner immer allein im Zimmer. Der andere Mitbewohner, der im ersten Stock wohnt und sich mit ihm das Bad teilt, war letztens so durch den Lärm verängstigt, dass er bei uns im Erdgeschoss geduscht hat.
Was mir wirklich Angst macht ist, dass der Japaner bei seinem letzten Ausbruch nicht nur laut auf Japanisch vor sich hingemotzt hat, sondern auch mehrmals meinen Vornamen und den meines Mitbewohners gebrüllt hat.
Wenn nur diese Kartons nicht wären, und man mal von der Terrasse aus schauen könnte, was dadrin vor sich geht… Es wird langsam echt unheimlich. Durch Zufall bin ich in einer Küchenschublade auf die Reinigungsprotokolle der Putzfrauen gestoßen, auf denen genau vermerkt ist, wann was in unserem Haus geputzt wurde. Ein Vermerk zieht sich durch alle Protokolle der letzten Wochen: Zimmer 5 nicht begehbar – Gegenstände im ganzen Raum verteilt. Auch wenn ich die Zimmernummern nicht im Kopf habe, war mir natürlich sofort klar, wessen Zimmer das war. Wenn die Protokolle stimmen, heisst das, dass im Raum hinter den gammligen Pappkartons seit Woche nicht mehr geputzt wurde. Aber gut, das ist seine Sache und da mische ich mich auch nicht ein. Was mich allerdings direkt betrifft ist folgende Geschichte:
Als ich Ende September eine Reistüte unter meinen Lebensmitteln fand, habe ich mir noch nicht viel dabei gedacht, ich hatte ja nicht geahnt dass das nur die Vorhut war.
Im Laufe der Wochen füllte sich mein Regalbrett mit immer mehr unidentifizierbaren asiatischen Lebensmitteln vom linken Rand her, und ich könnte schwören, dass meine Sachen alle paar Tage ein Stück weiter rechts standen als vorher. Ich brauchte nicht den ganzen Platz und da ich damals noch dachte, der Japaner würde mich ja eh nicht verstehen, habe ich mich stillschweigend mit der rechten Hälfte des Brettes zufrieden gegeben. Ich hatte eh nicht so viele Lebensmittel. Ich habe mich zwar gewundert, warum der Japaner sich nicht eins von den freien Brettern nimmt, aber weiter gekümmert habe ich mich auch nicht drum. Doch dieser Gestörte schob meine Sachen immer weiter nach rechts. Mit der Zeit wurde aus der Hälfte ein Viertel, und irgendwann ist so ein Regalbrett auch mal zu Ende und ich fand meine Sachen eines Tages auf dem Boden neben dem Regal liegen. Er hatte gewonnen und mir war es zu albern extra deswegen zu ihm zu geben. Erst am Tag davor hatte ich ihn gefragt, was denn die Bettdecke, die die gesamte Papiermülltonne ausfüllte, soll und nur ein interessiertes „oh, ah, si, si, claro“ zur Antwort bekommen.
Ich habe meine Sache dann in ein anderes Regalbrett getan. Nur einmal, als ich in Eile und in Gedanken war, habe ich aus Versehen ein Baguette auf mein altes Regalbrett gelegt. Am nächsten morgen fand ich es völlig zerstückelt in seiner Tüte vor. Klare Ansage statt „oh, ah, si, si, claro“. Der Anblick sprach eine deutliche Sprache und ich habe seitdem nicht mehr gewagt etwas Essbares dorthin zu legen oder mit dem Japaner zu sprechen.
Ich versuche mich jetzt wenigstens mit den anderen Mitbewohnern gut zu stellen und an einem Strang zu ziehen, was bei der Wohnheimverwaltung, die wir haben, auch wirklich nötig ist. Ich spreche nicht nur von Heizung, Warmwasser, Internet, kaputten Fenstern usw. sondern auch von der Post:
Eigentlich hat jede WG ihre eigene Adresse und rein theoretisch sollte die Post direkt an jede Wohngemeinschaft zugestellt werden. Tatsächlich sieht es aber so aus, dass die Post für das gesamte Wohnheim oft bei der Verwaltung landet, wo sie dann Tage lang vor sich hin gammelt, bis mal jemand auf die Idee kommt, seinen Arsch hochzukriegen und sie an die einzelnen WGs verteilt. Entweder es wird direkt an der Tür geklingelt, oder die Post wird „hinterlegt“.
Ich weiß nicht wie viele Sendungen bisher für mich „hinterlegt“ wurden, erhalten habe ich bisher erst einen Umschlag mich wichtigen Dokumenten, den ich direkt neben der Papiermülltonne auf dem Boden gefunden habe. Ich frage mich ernsthaft ob das Absicht oder Schlampigkeit war. Zu toppen geht das nur mit dem, was der lateinamerikanische Mitbewohner erlebt hat, dessen Brief mit der neuen EC-Karte zusammen mit dem Brief mit der Geheimnummer vor der Tür „hinterlegt“ wurde. Seitdem lasse ich alles an meine Adresse in Deutschland schicken.
Abgesehen vom Posterhalten lehrt mich auch das Postverschicken immer neue Facetten der spanischen Kultur. Ich habe im Sommer mehrere Briefmarken für einfache Sendungen ins europäische Ausland gekauft, gleich mehrere, weil Briefmarken schwer zu bekommen sind. (Details erspare ich mir an dieser Stelle mal.) Bevor ich alle aufgebraucht hatte, wurden die Preise erhöht (war ja klar) und meine Marken reichten nicht mehr für eine Sendung aus. In Deutschland gibt es seit Jahren eine Erfindung die sich Briefmarkenautomat nennt und wo man Briefmarken und beliebige Ergänzungsmarken rund um die Uhr kaufen kann.
In Spanien muss man wegen Briefmarken zur Post oder zum Kiosk, Ergänzungsmarken gibt es keine. Stattdessen muss man sich mit jedem einzelnen unvollständig frankierten Brief und jeder einzelnen unvollständig frankierten Postkarte zur Post begeben und die fehlenden 5 Cent dort dazu stempeln lassen.
Ich dachte mir nicht viel dabei, als ich am 5.11. gegen 14 Uhr eine Postkarte einwerfen wollte, für deren Frankierung mir allerdings noch 5 Cent fehlten. Ich ging zur Post und kämpfte minutenlang mit dem Wartenummernautomat. In der gleichen Zeit hätte ich an einem deutschen Briefmarkenautomat genauso gut zehnmal eine Briefmarke kaufen können, aber gut, andere Länder, andere Unsitten. Und was sind zwei Minuten vor dem Wartenummernautomat gegen eine Stunde in der Schlange vorm Schalter? Als es drei wurde, gab ich auf und entschied am Kiosk eine neue Briefmarke für 75 Cent zu kaufen und die alte halt wegzuschmeißen. Natürlich waren alle Kioske zu. Siesta von 14:30 bis 17:00. Wahrscheinlich wäre es schneller gegangen, noch weiter auf der Post zu warten als jetzt bis 17:00 vor verschlossener Tür zu stehen, aber ich war abgegessen und entschied schon mal nach einem Briefkasten zu schauen und dann halt um 17 Uhr eine 75 Cent Marke zu kaufen, die ich eigentlich gar nicht haben wollte. Von drei Briefkästen, die ich fand, gab es keinen, der erst nach 17 Uhr geleert wurde. „Dann halt morgen“ dachte ich, doch da fiel mir ein, dass der morgige Tag, ein Freitag, Feiertag war.
Ob es ein Grund ist sich zu ärgern, dass ein Briefkasten an einem Feiertag nicht geleert wird, ist dahin gestellt aber dass selbst am Samstag und am Sonntag in diesem Land keine Leerung erfolgt, das hat mir wirklich den Rest gegeben.
Ich fragte mich, wie ich eigentlich auf die wahnwitzige Idee gekommen bin, eine Postkarte aus Spanien schicken zu wollen, schmiss sie in den nächsten Mülleimer und warf die Briefmarken gleich hinterher.
Was die Uni angeht, hatte ich ja von Anfang an keine großen Illusionen mehr, aber anders als in Deutschland kann man hier nicht in der letzten Reihe chillen und den Prüfungen am Semesterende entgegen vegetieren, sondern man muss ständig schriftliche Hausaufgaben abgeben, wöchentlich mündliche und schriftliche Zwischenprüfungen ablegen, bis man am Semesterende im Januar pro Fach in der Regel noch eine Abschlussprüfungen ablegen und eine Abschlussarbeit einreichen muss.
Da ich, wie gesagt, komplett den Anschluss verloren hatte, musste mich mit dem Gedanken vertraut machen, spätestens durch die Prüfungen im Januar zu fallen (wenn nicht schon durch die Zwischenprüfungen) und schmiedete einen Plan B. Wie ich dann sowieso im November erfahren habe, ist mein Stipendium an die Erbringung aller Studienleistungen gebunden, was bedeutet, dass ich mich im Falle des Nichtbestehens einer einzigen Prüfung mit Rückzahlungsaufforderungen im vierstelligen Bereich konfrontiert sehen werde.
Mir wurde richtig schlecht, als ich das erfuhr. Ich habe in der Woche drauf einen Termin bei der Programmkoordinatorin gemacht und ihr mitgeteilt, dass ich keine Perspektive mehr in meinem Auslandsstudium sehe und lieber früher als später nach Hause zurückkehre, um den Stipendienbetrag, den ich zurückzahlen muss, gering zu halten. Ich finde es furchtbar traurig, dass meine letztendliche Entscheidung hier zu bleiben oder es weiterhin zu probieren, auf einmal von finanziellen Erwägungen abhängt. Aber der Stipendiengeber zahlt kein Schnupperstudium, sondern will Ergebnisse oder sein Geld wieder sehen. Da geht man lieber früher als später. Zumindest wenn man weiß, dass man den Studienauftrag eh nicht erfüllen kann. Ich habe mich dann im Gespräch mit der Koordinatorin dazu breit schlagen lassen, wenigstens das erste Semester zu beenden, zu versuchen die Abschlussprüfungen abzulegen und somit den Anspruch auf die bisherige Hälfte des Stipendiums zu behalten und von Rückzahlungen befreit zu werden. Die Koordinatorin versicherte mir, dass ich nach dem ersten Semester unkompliziert aussteigen kann, aber trotzdem die Prüfungen im Januar wenigstens mitschreiben muss. Meine Rückkehr nach Deutschland ist also schon absehbar, doch aufatmen tue ich erst, wenn die Prüfungen durch sind und ich hier ohne Rückzahlungsaufforderung raus bin. Bis dahin muss ich in der Uni noch mal alles geben. Da ich jetzt in Berlin sowieso vor dem Nichts stehen würde, ist es gar kein schlechter Kompromiss, hier zu bleiben und auch für den Lebenslauf macht sich ein abgeschlossenes Auslandssemester gut, doch besonders die letzten Wochen in der Uni, der hohe Leistungsdruck und die vergiftete Atmosphäre im Wohnheim haben mir ziemlich zugesetzt. So habe ich mir das Jahr hier nicht vorgestellt. Anstatt Land und Leute kennen zu lernen sitze ich jeden Tag von 9 bis 19 Uhr in der Uni, verzweifle über Büchern in einer Sprache, die mir vorkommt, als hätte ich sie noch nie gehört und werde in jeder Lehrveranstaltung aufs Neue mit meinem Scheitern konfrontiert.
Ich bereue nicht, dass ich mich Mitte November dazu entschlossen habe, meinem Aufenthalt noch eine zweite Chance zu geben, ich wollte die Flinte nicht so früh ins Korn werfen aber es ist schon eine ziemlich harte Nervenprobe. Jetzt habe ich gerade die letzte Woche Uni und am Donnerstag fliege ich schon nach Hause. Dann habe ich erstmal drei Wochen Schonfrist, komme aber im Januar noch mal für eine Woche Abschlussprüfungen wieder, bevor ich dann mit wehenden Fahnen abzischen kann. Das Ende ist zwar schon in Sicht, aber ich mache mir nichts vor: Mit den Prüfungen im Januar werde noch einen ziemlich nervenraubenden Kampf ausfechten müssen. Manage frei für das Armageddon von Alcalá!
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