9. Platz: "Aš myliū tave" - Drei kleine Worte und dahinter eine Welt.
Was heißt das eigentlich, "ich liebe dich"? Drei Worte, hinter denen sich so viel verbergen kann. Die 21-jährige Dorothee schildert ihre ganz eigene, persönliche Sicht auf diese so bedeutenden Worte der Liebe.
Aš - Ich
Wer ist “ich”?
Ein kleines Wort mit drei Buchstaben, so kurz und einfach. Aber wer steckt dahinter? Auf der Welt gibt es grob geschätzt sechseinhalb Milliarden Ichs, in Europa leben davon ungefähr 700 Millionen, in Deutschland sind es dann schon nur noch 80 Millionen (man lese und staune, die Zahlen werden kleiner) und schließlich sitzt ziemlich weit oben im Norden von Deutschland an der grad stürmischen Ostsee ein einzelnes kleines Ich und denkt darüber nach, wer es ist. Verrückt.
Würde ich bei den Zahlen bleiben um mich zu beschreiben (wie Antoine de Saint-Exupéry in “Der kleine Prinz” schreibt: “Die großen Leute haben eine Vorliebe für Zahlen.”) würde das vielleicht so aussehen: Ich bin 21 Jahre alt, 1,60m groß, habe einen Vater, eine Mutter, drei Geschwister, Schuhgröße 38 und eine fünf Zentimeter lange Nase (was in meinen Augen - davon habe ich übrigens zwei - durchaus etwas übertrieben lang ist).
Aber ich vertraue darauf, dass das hier Menschen lesen, die mehr als nur Zahlen verstehen. Und die wahrscheinlich wissen, wie schwer es sein kann, sich zu beschreiben, außerhalb von Zahlen und Statistiken, denn wann bietet sich schon mal die Gelegenheit, sich selbst kennenzulernen? Ich habe mich nie besucht und auch sonst kaum Annäherungsversuche unternommen. Speed-Dating, Blind Dates, Internet-Verkupplungen, das ist doch immer für zwei Ichs. Und Selbstgespräche haben in unserer Gesellschaft einen ziemlich schweren Stand...
Lange Zeit hatte ich auch gar nicht das Bedürfnis herauszufinden, wer ich bin. Erst einmal wollte ich die Welt kennen lernen. In einem fremden Land, einer anderen Kultur leben, interessante Menschen treffen, eine neue Sprache lernen, Abenteuer erleben. Nicht, um meinen Lebenslauf aufzupolieren, da habe ich wohl das falsche Land gewählt, sondern einfach, weil mir nach der Schule nichts Besseres einfiel.
Also bin ich mit dem Europäischen Freiwilligendienst von August 2007 bis September 2008 nach Vilnius, in die Hauptstadt von Litauen gegangen um dort in einer Tagesstätte mit Geistigbehinderten zu arbeiten. Und obwohl ich zu Beginn die Reden von Persönlichkeitsbildung und Selbstentwicklung als ziemliches Blabla abgetan habe, hat mir diese Zeit eine Menge über mich gezeigt, ganz ohne Selbstgespräche. Einfach im Zusammensein und Gespräch mit anderen Menschen, in einer völlig neuen Umgebung, im täglichen Bewältigen von kleinen und größeren Herausforderungen.
Und dann, ganz nebenbei und unbemerkt, heimlich, still und leise habe ich mich verliebt.
myliū - liebe
Was ist Liebe?
Lieben, wie geht das? Schön, wenn es eine Gebrauchsanweisung für das Herz gäbe. Wie man es steuern kann, wen es lieben darf, wie es lieben soll... Aber lieben, das ist etwas, was man (noch) nicht in Zahlen erfassen kann, so sehr die großen Leute auf der Welt auch forschen, analysieren und studieren. Denn wenn es sechs Milliarden Ichs auf dieser Welt gibt, dann gibt es auch mindestens sechs Milliarden Wege zu lieben.
Lieben, das ist bei mir so: Wenn die Augen nicht groß genug sein können, um alles zu sehen. Wenn die Hände alles anfassen, die Füße überall hinlaufen wollen. Wenn der Mund alles schmecken und probieren, die Nase alle Gerüche riechen will. Wenn die Worte, weder die der Muttersprache, noch die einer anderen, der neu erlernten Sprache ausreichen, um das, was da in mir, in meinem Herzen passiert, zu beschreiben. Und wenn es scheint, als sei das Herz nicht groß genug, um all das zu fühlen. Wenn jede Kleinigkeit, ein aufgefangenes Lächeln, eine Blume am Straßenrand zu einem kleinen, persönlichen Wunder wird.
Lieben, das ist das Gefühl, zuhause zu sein. Wenn mir jeder Stein, jede Ecke, jeder Baum vertraut vorkommt. Wenn ich weiß, dass ich schweigen kann, weil manchmal keine Worte nötig sind, um verstanden zu werden. Wenn eine kleine Geste, ein Gruß auf einer Postkarte, ein selbstgepflückter Blumenstrauß, ein geschenkter Keks, eine Schale Erdbeeren vor der Tür die Welt für mich bedeutet.
Lieben, das ist auch, Unangenehmem mit einem Lächeln zu begegnen. Wenn ich vor lauter Grau, Regen und Kälte am liebsten im Bett bleiben würde und mein Herz trotzdem einen Grund findet, aufzustehn. Wenn Probleme Probleme und Sorgen Sorgen sein dürfen und das Herz dahinter trotzdem einen Lichtschimmer sieht. Weil jemand da ist.
Und wenn ich mich nicht entlieben kann. Weil immer wieder Bilder auftauchen, Worte, Menschen, Musik, Erinnerungen, die einfach nicht verschwinden wollen, die sich nicht ausknipsen lassen wie das Licht. Wenn ohne Dich etwas fehlt.
Vielleicht ist es deshalb, weil ich mich nicht in eines der sechs Milliarden anderen Ichs verliebt habe, sondern in Dich.
tave - Dich
Wer bist Du?
Litauen. Manche von den sechs Milliarden Ichs sagen, Litauen, das ist ein Land. Manche sagen, Litauen, hm, ist das nicht irgendwo “dahinten”, im Osten? Litauen, hieß das nicht mal Lettland? Manche sagen: Litauen, da ist es doch immer so kalt, dahinten in Sibirien! Und manche fragen: Litauen? Was redet man denn da? Russisch?
Die Herausgeber des großen Weltatlas’ (echte Koryphäen auf dem Gebiet der Zahlen) sagen: Litauen ist ein Staat in Nordosteuropa mit einer Fläche von 65300km² und 3,45 Millionen Einwohnern. Die Hauptstadt heißt Vilnius, die Verwaltung ist in zehn Bezirke gegliedert und die Amtssprache ist Litauisch.
Und ein kleines Ich sagt: Für ein Jahr warst du meine Welt. Du hast mich empfangen mit einer Umarmung von einer Gruppe unglaublich liebenswerter Menschen, einem Strauß selbstgepflückter Blumen und einer Autofahrt durch den mir noch ziemlich unkoordiniert erscheinenden Stadtverkehr in Vilnius (nicht, dass dieser Eindruck später verschwunden wäre). Du bist eine Wohngemeinschaft mit fünf verschiedenen Charakteren, vier verschiedenen Kulturen und einem gleichen Gedanken: ein Jahr lang in einem anderen Land leben, neue Menschen kennen lernen und versuchen, etwas Gutes zu tun.
Du bist dieses fremde Land, in dem ich meine ersten Gehversuche auf eigenen Beinen unternommen habe und das nach und nach gar nicht mehr so fremd war. Du bist das erste “Guten Tag” in einer neuen Sprache und das gutmütige Lächeln auf dem Gesicht der Einheimischen, die sich so sehr freuen, dass es jemand wagt, diese zungenvergewaltigende Sprache zu lernen und deshalb großzügig über den allzu deutlichen Akzent und die nicht vorhandene Grammatik hinweghören.
Du bist ein Land, das mich täglich vor neue Herausforderungen gestellt hat. Sei es, Fotos auf Litauisch entwickeln zu lassen, während einer Fahrt im Trolleybus der Sitznachbarin den Handywecker auszustellen oder im Supermarkt Lebensmittel zu finden, die ich noch nicht einmal nach ausführlicher Beschreibung auf Englisch und künstlerisch gekonnter Zeichnung erkennen konnte. Du hast mir gezeigt, dass ich über mich hinauswachsen kann.
Du bist eine Kultur, die immer scheußlichen Kümmel ins Brot backen muss, den ich nicht ausstehen kann; eine Kultur, die unbedingt Basketball als Nationalsport spielen muss, und zwar so, dass man ihm nicht entkommen kann, auch wenn man wie ich mit 1,60m nicht gerade prädestiniert dafür ist; eine Kultur, die zeigen will, wie westlich sie ist und deshalb ganz nach amerikanischem Vorbild die freie Zeit in riesigen, klimatisierten Einkaufszentren mit Namen Akropolis verbringt und in der Weihnachtszeit eine riesige, blitzblaublinkende Tanne im Stadtzentrum aufstellt.
Aber Du bist auch eine Kultur, die aus George Bush Džordžas Bušas macht, um ihn einmal durch alle sieben Fälle Deiner Sprache hindurch deklinieren zu können (Džordžo Bušo, Džordžą Bušą, Džordžui Bušui etc. etc.); eine Kultur, die im Sommer Akropolis Akropolis sein lässt und zurückkehrt aufs Land, in das alte Gartenhäuschen zu Senelis und Senele, die ihren Garten noch selbst bebauen und das Feld mit dem Pferd pflügen. Im Sommer bist Du ein gelbes Meer aus Löwenzahn. Du bist eine einzelne Kuh, die inmitten einer Blumenwiese steht.
Du bist ein Abend bei Kerzenschein auf dem Balkon, ein Abend in einer verrauchten Küche im deutsch-italienisch-französisch-englischen Sprachwirrwarr, ein Abend, der mit einem wilden Fußballspiel beginnt und mit einem Nachtbad im mondbeschienenen Fluss endet, ein Abend am Lagerfeuer, mit dem Klang der Gitarre und litauischen Liedern im Ohr.
Du bist das, was mich nicht mehr loslässt: Menschen, Worte, Bilder, Gerüche, Musik, Erinnerungen, die tief in meinem Herzen sitzen. Du bist das, was ich nicht mehr loslasse: Ein Teil meines Herzens habe ich bei Dir gelassen, einen Teil bei jedem der Menschen, die in diesem Jahr auf wundersame Weise in Dir zusammengekommen und wieder gegangen sind: Nach Frankreich, Italien, Schweden, Österreich, Deutschland, Portugal. Und weil ein Zuhause dort ist, wo das Herz ist, habe ich jetzt etwas sehr Wertvolles: Ein Zuhause in Europa.
Du bist ein Land, durch das ein Fluss fließt, und an dessen Ufern in Blumenschrift steht: “Aš tave myliū” - Ich liebe Dich.
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