24 Stunden Abenteuer
Vor knapp 24 Stunden habe ich den Flughafen von Madrid verlassen und am Ausgang einen jungen Spanien entdeckt, der in der Hand ein Schild mit "Wanted: Marie Menke - Erasmus+" hielt. Was in der Zwischenzeit passiert ist? Eine ganze Menge!
"Viel Spaß in deinem Abenteuer!", hat mir vor einer Woche jemand gesagt. Abenteuer? Da hab ich gedacht: Mh, vielleicht. Eigentlich dachte ich, ich fliege ganz sicher nach Madrid, werde sogar vom Flughafen abgeholt und sogar in meine Wohnung gebracht. Ganz "deutsch" hatte mein Mentor mir vorher einen Ablaufplan für die ersten Tage geschickt - Bankkonto eröffnen, Transport Card kaufen, die Menschen im Oficina kennen lernen. Eins weiß ich heute schon mit Sicherheit: Eingehalten werden Pläne in Spanien nicht.
Zuerst einmal aber kam die große Enttäuschung: Als ich mit meinen Eltern am Flughafen sitze und gerade aufstehen und zur Sicherheitskontrolle gehen will, wird angeschlagen, dass mein Flug eine ganze Stunde verspätet habe. Die Internet-Flat fürs Handy ist längst gekündigt, irgendwie schaffe ich es dann doch noch, mich über das Handy von meinem Vater auf web.de einzuloggen und meinem Mentor zu schreiben, dass ich nie und nimmer rechtzeitig in Madrid landen werde. Bei der Sicherheitskontrolle werde ich auch direkt zur Seite gewunken: Laptop, Tablet, eReader & Co. haben für Verdacht gesorgt. Irgendwann sitze ich tatsächlich im Flugzeug und einige Minuten, nachdem wir die Sicherheitsgurte ablegen dürfen, verkündet einer der beiden Piloten, dass er jetzt das Steuer übernehmen und versuchen wird, die Verspätung aufzuholen. Erstmal geht ein Kreischen durch das Flugzeug, denn das fliegt plötzlich um einiges schneller als zuvor.
Ich bin jedoch nicht die Einzige, die zu spät in Madrid landet: Auch meine französische Projektpartnerin hat Probleme mit ihrem Flug, die ich dank meiner fehlenden Spanischkenntnisse bis heute nicht ganz verstehe. Um 22:30 wird am Flughafen plötzlich angeschlagen, dass der Flieger zwar mit recht viel Verspätung bereits gelandet wäre – meine Projektpartnerin ist jedoch noch immer nicht da. Mein Mentor ist dafür so nett und lässt mich noch einen Tag Englisch reden und meine Vorgängerin hat mir sogar einen Madrid-Reiseführer dagelassen – perfekt! Es ist Mitternacht, als ich endlich in der Wohnung bin, knapp halb zwei, als ich im Bett liege und mein Kopf ist voller spanischer Sätze. Erschöpft vom Flug und aufgeregt von all dem Neuen liege ich einen Großteil der Nacht wach und lege mir zurecht, wie ich meinem Mentor am nächsten Tag auf Spanisch verkünden kann, dass ich gut geschlafen habe – auch wenn das nicht so ganz stimmt.
Als am nächsten Morgen das Telefon schellt, heißt es, dass eben dieser in dreißig Minuten da sein wird – noch liegen wir beide in unseren Betten. In aller Eile wird Kaffee gekocht, den ich an diesem Morgen dringend nötig habe – und von dem ich einige Stunden später bereits fünf Tassen getrunken habe. Küsschen links, Küssen rechts für den Mentor und die noch ganz verschlafene Projektpartnerin, aber auch das erste Problem ist schon da: Wir werden in der ersten Woche noch keine Transport Card bekommen. Dafür geht’s raus ins schöne Madrid, raus auf dicht befahrene Straßen und in den Zug, der uns nach Cantoblanco in die Universidad Autónoma, meinen Arbeitsplatz für die nächsten Monate, bringt.
Was ich auf diesem Weg sehe, das überwältigt mich spontan: So ganz hatte ich es vorher nicht geschafft, mir ein Bild von Madrid zu machen. Ist es dort warm? Ich war zuvor nur auf Mallorca und Ibiza, da ist es schon warm, deshalb haben mich alle gewarnt, dass die Inseln kein Vergleich zum kalten Madrid sind. Bin ich in Düsseldorf noch in Boots, langen Jeans, Langarmshirt, Kuschelpulli und Daunenjacke ins Flugzeug gestoßen, trage ich jetzt Turnschuhe, viel zu warme Jeans und ein T-Shirt. Die Landschaft ist karg, nicht so grün wie bei uns, ich liebe es. In der Metro trifft unser Mentor einen weiteren Studenten, dem er uns spontan vorstellt und der auch Deutsch spricht – yey! Die Universität selbst ist riesig, besitzt um die zwölf Cafeterien, allein der Buchladen ist ungefähr so groß wie mein altes Gymnasium. Sie ist wunderschön, hat viele, grüne Wiesen, große Gebäude mit riesigen Glaswänden. Ein bisschen hatte ich mir Madrid wie Köln vorgestellt, eine Stadt, die mir in Deutschland einfach ans Herz gewachsen ist, aber der Vergleich ist sinnlos: Als mein Mentor mir die Zugstation als „muy pequeno“ (sehr klein) vorstellt, habe ich das Gefühl, im Kölner Hauptbahnhof zu stehen.
Die Spanier sind herzlich und als wir das Oficina, unsere Coordinating Organisation, betreten, springt einer nach dem anderen auf, umarmt uns, wieder gibt’s Küsschen links und Küsschen rechts. An letzteres muss ich mich noch gewöhnen – wirklich. Spontan werden wir auf einen café con leche eingeladen, alle reden herzlich durcheinander, ich kann vor lauter Konzentration, die ich dringend nötig habe, um überhaupt etwas zu verstehen, kaum etwas sagen. Auf dem Plan für heute steht eigentlich nur das Bankkonto, aber auch zu dem wird es nicht kommen: Letztendlich sind Anrufe nach Deuschland und Frankreich sowie einige wütende Oficina-Mitarbeiter notwendig, bis klar steht, welches Konto eröffnet wird. Irgendwann geht es zurück in die Wohnung, wo ich für einem einzigen Chaos stehe: In der vergangenen Nacht hatte ich nämlich keine Nerven, um aufzuräumen. Auch jetzt ist dafür aber keine Zeit, Skype wird schnell geöffnet, ein Gespräch nach Hause begonnen. Zu viel gibt es zu erzählen, um es in eine Stunde zu packen, so viel ist passiert. Danach kommt die Vermieterin vorbei, wir unterschreiben unsere Verträge für die Wohnung. Auch wenn ich mir die Wohnung nicht selbst ausgesucht hat, fühlt es sich doch an wie meine erste eigene Wohnung. Sie zeigt uns noch den Supermarkt, indem wir uns für das Wochenende eindecken, Salat, Tortellini und Joghurt werden gekauft, in meinem sowieso schon viel zu schweren Koffer hatte ich nur die Mini-Reise-Packungen von Duschgel, Shampoo & Co. Dabei, die jetzt schnell durch größere Exemplare ersetzt werden. Nur Abschminkzeug kann ich nicht auftreiben und mein geliebtes Make-Up-Entferner-Wasser musste aufgrund seines Gewichts zuhause bleiben. Ich drücke mir selbst sehr die Daumen, dass ein Trip in die Madrider Innenstadt das morgen ändern kann.
Sowieso hab ich nicht an alles gedacht: Ausgerechnet die Kopien meines Personalausweises scheine ich vergessen zu haben und nachdem ich bereits meinen Mentor in Aufregung versetzt habe, räume ich doch noch mein neues Zimmer auf und finde sie. Dafür ist der Wecker zuhause geblieben, das Handy muss vorerst aushelfen, auch die Vokabelbox mit spanischen Wörtern konnte nicht mit, weil sie zu schwer war, und einen Kamm hab ich ebenso nicht dabei. Noch ist alles eher Übergangsweise, alles muss schnell gehen, nie ist viel Zeit da. Dass ich jetzt einmal abtippen kann, was in den vergangenen 24 Stunden passiert ist, ist dabei wahnsinnig entspannend.
Auch die Sprachkenntnisse sind jedoch eher mangelhaft. Als wir uns um das Bankkonto kümmern möchten, hole ich das heraus, was ich mein Leben lang für ein Passport gehalten hatte und was in Deutschland einfach Personalausweis heißt. Meine Projektpartnerin hat eine französische Identity Card, deren Nummer ganz anders ist als meine, und auch eine Freundin, die vor kurzem in Spanien war, hat mir erzählt, dass die Spanier diese IDs haben, während in Deutschland Personalausweise, also Passports verbreitet sind. Nach viel Verwirrung weiß ich nicht mehr, ob das stimmt oder ob mein Personalausweis nicht vielleicht doch dasselbe wie eine ID ist – sowieso stiftet das ein oder andere Verwirrung. Meine französische Projektpartnerin versteht bedeutend mehr als ich, ab und zu wird für mich ins Englische übersetzt, meistens versuche ich einfach herauszufinden, was wichtig ist und was nicht. Nächste Woche beginnt der Sprachkurs und verspricht, ein Gefühl von Heimat zu schaffen.
Ich hab den Eindruck, dass sowohl meine Projektpartnerin und ich Menschen sind, mit denen das Zusammenleben nicht ganz so schwierig wird. Wir haben uns darauf geeinigt, dass jeder für sich selbst einkaufen geht und wir teilen uns nur Küche, Wohnzimmer, Balkon und Gästezimmer, während jeder ein Schlafzimmer und ein Bad für sich hat. Nachdem ich in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan habe, überlege ich noch, eventuell ins Gästezimmer umzuziehen oder es wenigstens heute Nacht auszutesten. In einem Mix aus Englisch, Spanisch und Französisch haben wir schon beschlossen, dass es wichtig sein wird, dass wir es irgendwie schaffen zu kommunizieren – sei es wenn uns etwas an dem anderen stört oder nur damit wir nicht den Fehler machen, beide gleichzeitig Freunde ins Gästezimmer einzuladen. Fröhlich versuchen wir von Familie und Freunden zu erzählen und vergessen hin und wieder ganz, welche Sprache das ist, die wir da gerade sprechen.
Am Montag werden wir noch einmal verschlafen in unseren Betten liegen, während unser Mentor uns erneut wachklingeln wird. Mit Bankkonto, Transport Card, spanische SIM-Card & Co. stehen noch immer dieselben Dinge wie auch heute auf der (to) do-Liste und ich bin gespannt, ob die nicht noch etwas länger unerledigt dort stehen bleiben werden. Danach sollen wir einen festen Stundenplan bekommen, Sportunterricht und Englisch werden wir auf jeden Fall als Assistenten begleiten, ansonsten haben wir die freie Wahl. Ich bin heilfroh, dass meine Projektpartnerin mich vorgewarnt hat, denn sonst hätte ich wohl kaum daran gedacht, genug Sportsachen für dreimal wöchentlich Unisport mitzubringen. Dazu kommt zweimal in der Woche das Altersheim, indem wir helfen werden, außerdem zweimal der Spanischkurs. Dass die Uni erst um 9 Uhr für uns beginnt, ist mein persönlicher Traum, nachdem ich in Deutschland jahrelang um 6 aufgestanden und um 7 zum Schulbus gesprintet bin, dass mein Arbeitstag aber bis 19 Uhr dauert, daran bin ich nicht gewohnt. Dennoch freue ich mich darauf, wenn wir einen festen Stundenplan haben, wenn alles etwas Routine annimmt und wenn die erste Aufregung vorbei ist.
Die letzten 24 Stunden waren ein Abenteuer, das ich so nicht erwartet hatte. Noch einige Tage vorher habe ich zu meiner besten Freundin gesagt, dass ich vermutlich mit keinem anderen Gefühl an die kommenden neun Monate herangehen werde, wenn es nicht Madrid, sondern nur Düsseldorf wäre, in das es mich ziehen würde, wie ich es ganz vielleicht für das nächste Jahr plane. Jetzt merke ich, dass der Unterschied gewaltig ist: Es ist die Landschaft, die immer wieder begeistert, diese wahnsinnig aufregende Stadt, die es mit keiner Stadt aufnehmen kann, die ich zuvor gesehen habe. Es sind die Menschen, die wir treffen, Spanier so temperamentvoll und herzlich, dass sie beinahe klischeehaft sind, ebenso wie die Erasmus+-Menschen, die mit ihrer Weltoffenheit und ihrer Liebe für fremde Länder einfach besonders sind. Und natürlich ist da auch Heimweh, immer mal wieder Momente, in denen der Plan, neun Monate lang zu bleiben, einfach nur absurd klingt. Beim Aufräumen mussten Namika und Glasperlenspiel ein bisschen Heimat bringen, während What'sApp und Skype die Geschichte nach Deutschland übertragen, denn noch bin ich innerlich so aufgedreht, dass ich noch nicht weiß, wie ich auch heute Nacht zur Ruhe kommen soll. Was in den letzten 24 Stunden passiert ist, ist nahezu verrückt – derartig viele neue Orte, neue Menschen und neue Wörter.
All das fühlt sich nicht wie Urlaub an, aber auf eine eigenartige Art und Weise dennoch schön. Langsam fange ich an zu verstehen, dass mein EVS doch ein großes, buntes Abenteuer sein wird, und die Gefühle, die das in mir auslöst, von Begeisterung für die Stadt über die Freude darüber, ganz allein darüber entscheiden zu können, was im Supermarkt gekauft wird, über das Gefühl, mit so vielen verschiedenen Menschen in so vielen verschiedenen Sprachen reden zu können, dazwischen ein bisschen Heimweh, die Sehnsucht nach Skype & What'sApp und auch nach einem festen Stundenplan, den ich hoffentlich ab nächster Woche haben werde – all das ist überwältigend.
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