2. Platz: Unser Europa. Eine Vision
Malte Koppe, 26 Jahre alt, widmet sich der Zukunftsvision eines vollkommen vereinten Europas, in dem sich ein Reisender über die bewegte Vergangenheit des Kontinents nur wundern kann.
J. las mit einer solchen Faszination, dass ihn das hektische Treiben auf dem Schnellhafen Brüssel kaum störte. Während sich um ihn herum die Neue Welt drehte, sah er vor seinem geistigen Auge die Alte Zeit. Zumindest versuchte er sich diese vorzustellen, denn sie hatte ihn schon immer fasziniert. So achtete er weder auf das strahlende Sommerwetter noch kümmerten ihn die Passanten, die um seine Bank herumwuselten.
Die Ursache der beiden Weltkriege im letzten Jahrtausend muss man vor allem im zunehmenden Nationalismus suchen, informierte ihn sein Handcomputer. Während der erste große Krieg im 20. Jahrhundert das Ergebnis des gleichzeitigen Expansionsstreben aller europäischen Nationen war, brach der sogenannte Zweite Weltkrieg durch ein Zusammenwirken von drei Faktoren aus: der Hybris eines sich für auserwählt haltenden Volkes, eine weltweite Rezession sowie ein hohes Gewaltpotenzial der Menschen in ganz Europa.“
J. war fasziniert und verdutzt zugleich. Er markierte die Worte Nationalismus und Rezession, denn er hatte von ihrer Bedeutung nur eine vage Vorstellung. Zwar meinte er sich zu erinnern, dass die Nationen im vergangenen Jahrtausend vor der Großen Einigung etwas mit verschiedenen Sprachen und sogenannten Grenzen zu tun hatten. Doch obwohl er sich schon lange mit der Alten Zeit beschäftigte, waren ihm viele Begriffe und das Denken der damaligen Menschen oft rätselhaft.
Während er den Überblicksartikel „Zweites Jahrtausend“ studierte, bemerkte er plötzlich, dass ein Passant vor ihm stand und zu ihm sprach. J. hatte ihn in seiner Konzentration zuerst gar nicht bemerkt. „Dov'è si trova il prossimo distributore?” wiederholte dieser und J. verstand, dass der Mann Italienisch sprach. Es machte ihm etwas Mühe sofort zu antworten. Daher wechselte er ins Spanische und sein Gegenüber verstand. Freundlich wies J. ihm den Weg zum nächsten öffentlichen Nahrungsmittelspender.
Dem Passanten nachschauend versuchte er sich die Alte Zeit vorzustellen. Die Menschen der verschiedenen Regionen Europas lebten damals weitgehend getrennt voneinander. Reisen waren wenigen Privilegierten vorbehalten. Ultrabahnen gab es noch nicht. Und nur die Elite war in der Lage, sich mit Menschen aus anderen Kulturen zu verständigen. Es ist leicht etwas zu hassen, was man nicht kennt, dachte J. Noch dazu waren damals die Ressourcen Energie und Nahrung begrenzt. Da die technische Entwicklung noch in den Kinderschuhen steckte, kämpfte die Menschheit ständig um die knappen Rohstoffe.
J. überlegte: So vieles hatte sich seit der Alten Zeit geändert. Schon seine Urgroßeltern waren vielsprachig aufgewachsen. Hochgeschwindigkeitsreisen waren seit langem selbstverständlich; dazu hatte interkulturelle Friedensbildung Priorität in den Schulen. Und durch gerechte Verteilung sowie technische Innovation gab es keine materielle Not mehr. Eine plötzliche Welle von Zufriedenheit erfasste J. Er erkannte sein Glück, in diesem Jahrtausend in einem friedlichen Europa geboren worden zu sein.
Eine Durchsage auf dem Videoschirm lies ihn aus seinen Gedanken aufhorchen. Die Ultrabahn aus Kiew werde sich verspäten, lautete die Ankündigung. Das war Ihr Zug. J. hatte Sie seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen und Sie fehlte ihm. Besonders am Abend spürte er das.
Aber Verspätungen ereigneten sich im Transeuropaverkehr in den letzten Wochen häufiger. Kein Grund zur Sorge also. Grund hierfür war der zur Unterstützung der asiatischen Regionen von der Europaregierung initiierte Ausbau des Netzes im Kaukasus. J. versenkte sich wieder in seine Lektüre. Vorfreude war noch immer die schönste Freude. Er würde noch ein wenig lesen bis Sie eintraf.
Auf seinem Datenschirm wählte er eine weiterführende Erläuterung aus und begann erneut zu lesen: Nationalismus – in Ausläufern bis in das 21. Jahrtausend vorherrschende politische Ideologie in Europa. Der N. geht davon aus, dass die Menschen einer Region in Hautfarbe, Kulturleistungen, Wirtschaftskraft oder Religion begründete Vorteile anderen Gruppen - sogenannten Nationen - besitzen. Der N. verneint grundsätzlich die Möglichkeit der Koexistenz von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Im Zuge der Großen Einigung wurde der N. schrittweise durch Solidarität und die Priorität des Friedens in den menschlichen Beziehungen abgelöst.
J. war jetzt nicht weniger verwirrt als zuvor: Wieso hatte denn gerade Religion die verschiedenen Nationen getrennt? J. hatte diese immer als etwas Reines erlebt. Zwar besuchte er nicht regelmäßig die Rituale, doch die dortige Harmonie der verschiedenen Glaubensrichtungen schien ihm magisch. Sie verband alle Menschen. Wie sollte Religion also die Menschen entzweien können? Er gab die Worte „Religion im Zweiten Jahrtausend“ in den Computer ein. Ein mehrseitiger Artikel erschien auf dem Schirm, den er mit einem Lesezeichen markierte. Da er bis zur Ankunft Ihres Zuges noch etwas Zeit hatte, beschloss er, einen der Ruheräume aufzusuchen, um sich etwas zu entspannen, vielleicht zu schlafen. Seine Lektüre würde er später fortsetzen. Die Geschäftigkeit des Schnellhafens hatte ihn doch etwas ermüdet.
***
Im Ruheraum leuchtete gedämpftes Licht und es duftete sanft nach ätherischen Ölen. Es war angenehm kühl, aber nicht kalt. Einen freien Sessel fand J. sofort. Trotz seiner Müdigkeit beschloss er, noch einmal zur Lektüre zurückzukehren. Er mochte das Gefühl, wenn seine Augen sich vor Müdigkeit beim Lesen schlossen und die Sinne langsam in das Reich der Träume hinüberglitten. Er dachte darüber nach, was er heute gelernt hatte: Hass auf andere, nur weil sie anders sind … dabei unterscheidet sich doch jeder Mensch vom anderen, ist einzigartig. Das ist doch ganz normal.
J. erinnerte sich, dass er noch etwas über Religion nachlesen wollte. Die Entspannungsmusik wechselte fließend von leichter Klassik zu asiatischen Klängen. Wieder nahm er den kleinen Schirm zur Hand. Religion, so las er, war im 20. Jahrhundert oft Ursache und Vorwand für kriegerische Auseinandersetzungen. Denn sowohl Gläubige als auch Gelehrte der verschiedenen Kulte gingen von der Unfehlbarkeit und Überlegenheit ihres eigenen Glaubens aus. Dies führte ...
Einmal mehr wurde J. in seiner Lektüre gestört, als Schreie von außerhalb des Ruheraumes an sein Ohr drangen. Gebellte Befehle folgten. Nicht nur J., auch alle übrigen Gäste des Ruheraumes schossen wie von einem Geschoss getroffen aus ihren Sesseln. Da erklang plötzlich ein ohrenbetäubendes Zischen.
Zusammen mit den übrigen Gästen im Ruheraum strömte er zum Ausgang, um nach der Ursache des Lärms zu sehen. „Was zum …?“ rief ein älterer Herr, der noch vor ihm die Plastglastür erreichte. Als J. über einen der Sessel zum Ausgang stolperte, kam ihm ein schrecklicher Verdacht. Er wusste was geschehen war und erkannte das Geräusch noch bevor er die Quelle sah. Ein Schuss mit einem Betäubungsgewehr hatte es verursacht. Dabei gab es die doch gar nicht mehr! „Da schießt jemand!“, rief er aus. Doch der Anblick, der sich ihm vor der Tür bot, überstieg alle seine Befürchtungen. Mehrere Männer in dunkelblauen Schutzanzügen - wozu gehörten sie? - richteten ihre Gewehre auf Menschen. J. konnte es nicht fassen. Gewalt. Urplötzlich. Was war das für eine Einheit? Es hatte solche … Soldaten noch nie gesehen. Verspiegelte Helme. Arm- und Beinpolster. Headsets zur Kommunikation. Keine Insignien.
Erst jetzt musterte er genauer die ungefähr ein Dutzend Menschen, die wie Robben am Boden lagen. Flach auf dem Bauch, den Kopf aber erhoben. Die Hände hatten sie hinter ihrem Haupt verschränkt. Ihre Augen weit aufgerissen blickten sie in die verspiegelten Visiere der um sie herum stehenden Truppen. Die Menschen bangten sichtlich um ihr Leben. J. erkannte, dass sie alle ausnahmslos asiatische Gesichtszüge hatten. In seinem Hirn rasten die Gedanken. Was ging hier vor? Wer nahm sich das Recht ... ? „Jeder Mensch ein Wunder“, schoss es ihm durch den Kopf. Die Präambel der Europäischen Verfassung.
„Ihr dreckiger Immigrantenabschaum. Unseren Wohlstand wollt ihr klauen! Euch brauchen wir nicht!“ Die Stimme des Truppenführers zerschnitt seine Gedanken. Der Uniformierte wandte sich in Richtung seines Teams: „Laden! Feuer auf mein Kommando!“ befahl er. All dies dauerte nur wenige Sekunden, aber J. schien es, als laufe in Zeitlupe ein Film vor ihm ab.
Nun konnte er nicht mehr anders. Er musste eingreifen. Jetzt, bevor es zu spät war. Er stürmte aus der Tür auf den Truppenführer zu und … strauchelte. Bevor er sich wirklich in Bewegung gesetzt hatte, war er bereits durch einen schnellen Treffer paralysiert. Ein Schmerz gemischt mit einem merkwürdigen Vibrieren blockierte seinen Verstand. Seine Beine spürte er gar nicht mehr. Was zum Teufel hatte ihn da getroffen? J. wurde schwarz vor Augen als er langsam auf den Boden sank. Das Summen nahm nun seinen ganzen Körper ein; die Schreie und das Gewehrfeuer aber klangen immer gedämpfter an sein Ohr bis sie verhallten.
Schlagartig öffnete er die Augen. Der Ruheraum war leer. Beruhigendes Wassergeplätscher und Vogelgesang drang aus den Lautsprechern. Die übrigen Gäste waren bereits gegangen. Verdutzt rieb sich J. die Augen, während er sich langsam von seinem Sessel erhob. Wo waren die maskierten Truppen, wo die ... Schweiß rann von seiner Stirn; sein T-Shirt klebte ihm förmlich am Körper.
Er hatte geträumt. Erst langsam begriff er, dass das summende Geräusch vom Handcomputer in seiner Hosentasche kam. Jemand versuchte ihn zu erreichen. Noch immer nicht ganz bei Sinnen aktivierte er die Anrufannahme. Sie war es. Erleichterung durchströmte ihn, als er Ihre Stimme vernahm: „Schatz, ich bin da. Der Express aus Kiew hatte etwas Verspätung. Wo bist du? Ich stehe am Gleis und warte.“
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Eine bessere Zukunft ist möglich
KM.
[Der Autor dankt Andrey Sosnin für das Bildmaterial]
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