100 Jahre Unabhängigkeit
Blauer Himmel, schwarze Bäume und weißer Schnee- diese typische Landschaft für Estland erinnert and die Nationalfahne, die zum 100. Geburtstag der unabhängigen Republik überall zu sehen war.
In the course of centuries never have the Estonian people lost their desire for independence. From generation to generation have they kept alive the hidden hope that in spite of enslavement and oppression by hostile invaders the time will come to Estonia "when all splinters, at both end, will burst forth into flames" and when "Kalev will come home to bring his children happiness."
Now that time has arrived
(Auszug aus der Unabhängigkeitserklärung vom 24.2.1918)
Am 24. Februar 2018 sind 100 Jahre vergangen, seitdem Estland zum Ende des Ersten Weltkriegs seine Unabhängigkeit zum ersten Mal verkündet hat. Die unabhängige Republik blieb jedoch nur 22 Jahre bestehen, bis sie 1940 wieder von der sowjetischen Regierung besetzt wurde. Die Proklamation der Unabhängigkeitserklärung am 24.Februar 1918 wurde zwar zum offiziellen Nationalfeiertag erklärt, allerdings gibt es zwischen den Jahren 1917 und 1920 eine Reihe von bedeutsamen Ereignissen, die ebenfalls als Geburtsstunde der Republik betrachtet werden können. Zum Bespiel sehen viele den 28. November 1917 als Beginn von Estland als eigenständigen Staat, da sich an diesem Tag der demokratisch gewählte, estnische Landtag zur höchsten Instanz des Landes erklärte. International offiziell anerkannt wurde Estlands Unabhängigkeit allerdings erst 1920 mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen der Sowjetunion und Estland. Da der unabhängige Staat Estland nicht an einem einzigen Tag entstanden ist, sondern vielmehr als ein Prozess betrachtet werden muss, feiert Estland einfach 4 Jahre lang seinen 100. Geburtstag!
Für mich ist Patriotismus etwas sehr Suspektes und weder Nationalhymne noch Fahne würden besondere Emotionen in mir hervorrufen. Estland als kleines Land, das sich stets gegen größere Mächte behaupten musste, ist sehr stolz auf seine besondere Kultur und das Nationalgefühl ist deutlich spürbar. Während der Geburtstagsfeier kam die Frage zwischen meinen Kollegen auf, was ihnen die Unabhängigkeit eigentlich bedeutet. Die Antworten waren für mich überraschend ernst und bedeutsam. Sowohl diejenigen, die Estland noch als Teil der Sowjetunion erlebt haben, als auch jüngere waren sehr stolz darauf, wie unfassbar schnell sich Estland als unabhängiger Staat entwickelt hat und dennoch seine Kultur und Traditionen am Leben erhält.
Ebenso erstaunt hat mich die Art und Weise, wie sie persönlich dieses Jubiläum feiern. Zum Beispiel hat eine der Künstlerinnen im Museum eine verstaubte Kassette mit der Nationalhymne ausgegraben und gemeinsam mit ihrer Familie dazu gesungen. Meine Mitbewohnerin hat mit ihren Freunden traditionelle Heringschnitten zubereitet, die keinem von ihnen schmecken, jedoch unverzichtbar für diesen Tag sind. Zudem trugen fast alle Esten traditionelle Kleidung oder die Nationalfarben. All diese Bräuche wären auch in Deutschland an Feiertagen denkbar, würden aber vermutlich nicht mit demselben Ernst und Feierlichkeit begangen.
Zu Ehren dieses wichtigen Anlasses haben die Esten sehr viel Einfallsreichtum bewiesen. Eines meiner Lieblingsprojekte ist die Liste von 100 Büchern, die jeder Este lesen sollte. Für unseren Buchladen Fahrenheit 451 habe ich ein Plakat gemalt, auf dem jeder Besucher ein Buch eines estnischen Autors schreiben kann. Dabei sind viele Klassiker zusammengekommen von Anton H. Tammsaare oder Eduard Vilde, jedoch auch Kinderbücher oder Bücher über die estnische Kultur. Mit dem Museum haben wir das Manifest an alle Völker Estlands, die Gründungsurkunde der Republik Estland, mit jedem Besucher auf einer Druckerpresse gedruckt, die der von 1918 sehr nahe kommen soll. Unsere Künstlerin, Charlotte, hat eine Schreibmaschine aufgestellt und die Frage „What means independance to you?“ eingetippt. Dabei kamen sehr interessante Interpretationen zusammen, die sich teilweise auf Estland bezogen, aber auch auf individuelle Freiheit oder die Unabhängigkeit der Künstler. Die Antwort von einer Frau im traditionellen bunt gestreiften Rock lautete zum Beispiel: „That I can be a folklorist“. Zu Ehren der Nationalfahne wurde jeder bekannten Skulptur in Estland, wie zum Beispiel den küssenden Studenten in Tartu, ein blau-schwarz-weißer Schal umgebunden oder eine Mütze aufgesetzt. Außerdem werden viele Events oder Projekte, die dieses Jahr stattfinden, als „Geburtstagsgeschenke“ für Estland gesammelt. So ist zum Beispiel auch unsere Kickstarter-Kampagne, den kleinen Prinzen zu drucken, offiziell ein Geschenk zu Estlands 100. Geburtstag.
In Tallin bildet die Militärparade vor dem estländischen Parlament den Höhenpunkt, die aufgrund der vielen steifen Uniformträger in Tartu unter dem Spitznamen „Pinguin Parade“ bekannt ist. Während der Parade wurden zahlreiche Reden gehalten, die gezeigt haben, dass die Unabhängigkeit von Estland nicht als selbstverständlich betrachtet wird. So wurde zum Beispiel gesagt, dass die Unabhängigkeit heute sicherer als je zuvor sei, da Estland Freunde und Verbündete hat. Estland legt viel Wert darauf, Teil von internationalen Bündnissen wie der Nato zu sein, die das Land stärker gegenüber dem übermächtigen Nachbar Russland machen. Vor dem Hintergrund, dass Estland immer wieder für seine Unabhängigkeit kämpfen musste, ist das starke Nationalbewusstsein auch durchaus verständlich.
Die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag der unabhängigen Republik Estland haben mir gezeigt, dass ein Nationalbewusstsein auch etwas sehr positives sein kann und nationale Feiertage mehr bedeuten können als nur schulfrei und geschlossene Supermärkte.
Quellen: http://www.ev100.ee/en, http://news.err.ee/685613/terras-independence-and-freedom-never-to-be-taken-for-granted
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