Zeitreisen
Am Anfang des Freiwilligendienstes haben wir den Auftrag bekommen, einen Brief an uns selbst zu schreiben. Hier könnt ihr ihn und meine Antwort darauf lesen.
5. September 2017:
„Liebe Mirja der Zukunft,
ich bin mir sicher, dass du gerade glücklich bist.
Vielleicht bist du traurig über den Abschied oder nervös im Hinblick auf die Zukunft, aber es wird alles gut werden. Versprochen.
Wobei ich mir auch sicher bin – du wirst ein anderer Mensch sein, erwachsener und selbstständiger. Hoffentlich auch mutiger.
Du wirst dich an diesen Moment erinnern, vor dem Hotel in Bad Muskau in der Sonne, am Tisch mit Johanna und Sonja und dem plätschernden Brunnen. Und daran denken, wie verdammt viel seitdem doch passiert ist.
Ein bisschen fühlt sich alles wie eine Falle an – der Anfang war so schön, so kann es doch nicht weitergehen. Bezogen auf das Leben oder auf dieses Seminar. Irgendwo muss doch der Haken sein. Aber letztendlich habe ich alles Schlechte überstanden und viele gute Erinnerungen. Menschen, die ich liebe und die mich lieben. Ich merke gerade, dass ich die Leitfragen irgendwie ignoriere, aber das hier wird sowieso keiner sonst lesen.
Ich hoffe, dass du weißt, was du jetzt machen willst, ich weiß es noch nicht. Aber bis dahin wartet noch so viel auf dich…
Auf mich, tut mir leid. In zwei Mirjas zu denken kommt mir etwas komisch und ein bisschen schizophren vor.
Du kannst bestimmt schon viel besser Polnisch als ich. Sicher bist du ein interessanterer Mensch als ich es jetzt bin, mit vielen neuen Freunden und auch neuen Hobbys. Verrückt, an die Mirja in einem Jahr zu denken, ich kann mir kaum die Mirja in zwei Wochen vorstellen. Aber alle sagen, dass dieses Jahr schnell vorbei sein wird und das glaube ich auch.
Wer weiß, vielleicht bist du inzwischen Jazz-Fan oder Buddhistin oder sowas. Aber das würde mich doch überraschen. Na ja, eigentlich soll es um die Mirja von heute gehen. Die Mirja von heute ist eigentlich ganz okay, sie friert nur gerade ein bisschen.
Alle fragen mich, ob ich aufgeregt bin und wahrscheinlich sollte ich das sein. Aber warum? Ich habe eine schöne Wohnung, nette Mitbewohnerinnen, eine klasse Einsatzstelle mit tollen Chefinnen und Menschen, die sich immer um mich kümmern.
Gerade kam mir der Gedanke, dass du jetzt volljährig bist. Eigentlich will ich das nicht sein, aber ich denke, es ist okay. So viele neue Möglichkeiten! Aber auch Verantwortung, ui. Was ist noch wichtig? Ich hoffe, Trump ist nicht mehr Präsident, die WM war gut (vielleicht hat Polen ja gewonnen? Nein, Spaß) und deine Familie und Freunde sind gesund und glücklich.
Mein Wunsch für dich wäre, klüger zu sein und jemand, den du gerne kennenlernen würdest, eine hoffnungslose Optimistin zu bleiben, aber vielleicht mit einem Plan vom Leben oder zumindest von den nächsten Jahren. Und vergiss nicht, jeder falsche Weg ist irgendwann eine gute Geschichte und alles, was nicht nach Plan läuft, macht dich nur schlauer.
Ich habe gerade überlegt, das hier auf meinem Blog zu posten, das wäre sicher interessant. Na ja, mal gucken.
Es war eine coole Idee, uns das hier schreiben zu lassen, auch wenn die Leitfragen zugegebenermaßen etwas dämlich sind – in welche Zeit würde ich mit einer Zeitmaschine reisen? Ich bin mit der Gegenwart sehr zufrieden, auch wenn ich (wie bereits erwähnt) etwas friere. Aber dann hätte ich halt eine Jacke anziehen sollen.
Ich muss aufhören! Hat Spaß gemacht, dir zu schreiben.
Bis in einem Jahr!
Deine Mirja der Gegenwart (oder der Vergangenheit?)“
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30. August 2018:
„Liebe Mirja der Vergangenheit,
erstmal solltest du an deinem Schreibstil arbeiten, das hat ja gar keine Struktur. Aber gut, da es sich quasi um einen Tagebucheintrag gehandelt hat, sei dir ein wenig künstlerische Freiheit verziehen. An dieser Stelle übrigens wahnsinnigen Respekt vor Menschen, die tatsächlich Tagebuch schreiben – ich habe ordentliche Tritte in den Hintern gebraucht, um regelmäßig meinen Blog weiterzuführen.
Vor drei Wochen saßen wir bei unserem Abschlussseminar im Gras und haben unsere Briefe vom Anfang bekommen. Zusammen mit den Menschen, die ich damals schon kannte, die jetzt aber unendlich viel mehr bedeuten, habe ich darüber gelacht, was ich geschrieben hatte, einige Stellen vorgelesen und über das Jahr nachgedacht. Es hat sich herausgestellt, dass die anderen sich tatsächlich an die Leitfragen gehalten hatten.
Und jetzt sitze ich in meinem neuen Zimmer in Maastricht, habe so viel mehr Platz und kann plötzlich mit den Menschen um mich herum reden und trotzdem fehlt Polen mir. Das Żary-Trio, das gemeinsame Essen, die Tanzabende, das Reden auf dem Balkon, das Lachen, die Wärme (sogar buchstäblich: Die Wohnung dort war eindeutig besser isoliert und man glaubt es kaum, aber ich friere schon wieder).
Tatsächlich erinnere ich mich noch gut daran, wie ich vor einem Jahr diesen Brief geschrieben habe. Ich glaube fast, ich könne zumindest jedes Wochenende in Polen rekonstruieren. Vorher hatte ich oft das Gefühl, als würden die Wochen und Monate verschwimmen und ich wusste schon im Juni nicht mehr, was ich im April gemacht hatte. In meinem Freiwilligendienst war alles viel klarer, vielleicht, weil mehr passiert ist. Und es waren so viele schöne Momente, dass ich sie lange nicht aufzählen kann.
Trotzdem möchte ich dir von meinen Highlights erzählen. Eins hast du sogar schon erlebt, das aber genauso zu diesem Jahr gehört wie der Rest. Der Sprachkurs in Melaune war einfach fantastisch und ich habe immer noch Kontakt zu einigen Teilnehmern. Gerade findet der Nachfolgerkurs statt und eine Freiwillige der nächsten Generation ist dort – ich hoffe, es wird ihr so viel Spaß machen wie mir.
Jedes Seminar war ein Highlight auf seine eigene Art, aber am schönsten war wohl das letzte. Es fand in der großen Gruppe statt mit deutschen, polnischen und tschechischen Freiwilligen und passend dazu in einem Drei-Kulturen-Haus im Gebirge nahe der tschechischen Grenze. Dort haben wir auch eine ganz besondere Wanderung überstanden: 31 Kilometer, auf die Schneekoppe und wieder zurück, von Mitternacht bis elf Uhr vormittags. Du darfst stolz auf dich sein!
In diesem Jahr gab es schon einmal eine Wanderung, an die ich gerne zurück denke. Auch wenn wir bei der Woche im Februar eher auf Langlaufskiern unterwegs waren, zählt sie zu meinen Lieblingserinnerungen. Auch hier hoffe ich, dass es im nächsten Jahr wieder genauso toll wird... vielleicht ja mit neuen Freiwilligen.
Dazwischen gab es viele kleine Reisen, nach Poznań, nach Lemberg und nach Riga, von denen ich immer unheimlich viel mitgenommen und Stück für Stück Osteuropa entdeckt habe. Dank der regelmäßigen Ausflüge nach Wrocław und Krakau habe ich auch diese beiden Städte sehr ins Herz geschlossen und freue mich darauf, sie wiederzusehen.
Meine Geburtstagswoche war auch eine fantastische Zeit mit so vielen Überraschungen, in der ich auch die Möglichkeit hatte, meiner Familie und meinen Freunden meine temporäre Heimat zu zeigen. Ich bin allen so dankbar, die sich auf den weiten Weg gemacht haben, das hat mir sehr viel bedeutet.
Was mir aber mit am meisten fehlen wird, ist Trzebiel. Meine Kolleginnen im OKiB, immer für Kuchen und Witze zu haben, die mich so super aufgenommen haben und für mich da waren, die Kleinen aus meinem Unterricht, die sich nie irgendetwas gemerkt haben, aber trotzdem immer süß waren, die Kinder im Ferienprogramm, ein großer chaotischer Haufen, die Menschen aus dem Englisch- und Deutschunterricht, die bei jedem polnischen Wort stolz auf mich waren und sich selbst solche Mühe gaben, meine Sprache zu lernen und natürlich die wunderbare Kasia, meine sehr gute, leicht verrückte Freundin aus dieser Zeit.
Wenn ich zurückkomme, und das habe ich fest vor, wird es auf jeden Fall für Trzebiel sein und nicht für Żary. An Żary werde ich unsere Wohnung vermissen und höchstens die Lebensmittelpreise bei unserem Biedronka.
Du hast davon geschrieben, ein anderer Mensch zu werden. Ob ich das bin? Keine Ahnung. Sonja, Johanna und ich haben uns immer über Freiwillige lustig gemacht, die schon nach kurzer Zeit behaupteten, "viel offener und selbstständiger" zu sein. Vielleicht ist es aber tatsächlich so gewesen, wer weiß das schon.
Ich bin inzwischen weder Jazz-Fan noch Buddhistin (das wäre im katholischen Polen aber auch eine außergewöhnlich schlechte Idee gewesen), aber ich bin auch nicht mehr das Mädchen direkt nach dem Abi.
Jetzt kann ich kochen (zumindest würde ich das gerne behaupten) und weiß ein oder zwei Dinge über den Haushalt. Ich hab so ungefähr jedes mögliche Problem mit der Bahn er- und überlebt. Und ein bisschen mehr Polnisch als am Anfang kann ich jetzt tatsächlich auch.
Und sonst so? Am Samstag werde ich diejenigen wiedersehen, die mir in diesem Jahr am wichtigsten waren, unser Küken Johanna wird 18 und das müssen wir schließlich feiern.
Meine neue Heimat gefällt mir richtig gut, auch wenn ich die Polen hier bisher vergeblich suche.
Und am wichtigsten: Du hast recht gehabt. In diesem ganzen Jahr mit allen Höhen und Tiefen habe ich es in keinem einzigen Moment bereut. Wieder ist alles Schlechte überstanden und zurück bleibt nur Dankbarkeit.
Und ich hoffe, dass ich mein Leben weiterhin so sehen werde und immer viel zu erzählen habe. "Damals in Polen" ist auf jeden Fall ein guter Anfang.
Deine Mirja"
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