Zeit für Multiperspektivität
Potsdam am 2. Oktober. Arztbesuch. Der Smalltalk an der Rezeption kommt auf den morgigen Feiertag. "Der 3. Oktober hat doch nichts mit dem Mauerfall zu tun.", erklärt mit Überzeugung die Sprechstundenhilfe. "Da hat sie nicht Unrecht", denke ich.
Die Mauer, die über 28 Jahre Deutschland, Europa und die Welt trennte, fiel im November 1989 in der Nacht vom 9. auf den 10. In Deutschland ist dieses Ereignis zum Symbol geworden. Zum Symbol des Endes des Staatssozialismus. Das Unrechtssystem wurde in Deutschland niedergerungen und schließlich wuchs zusammen, was zusammen gehört. So die gängige Auffassung.
Mit dem 3. Oktober hingegen verbinden nur wenige den offiziellen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Der 9. November ist deshalb nie zum Feiertag erklärt worden, da er historisch vorbelastet ist. 1923 versuchte Hitler an genau diesem Tag, erstmals gewaltsam die Staatsmacht an sich zu reißen. Am 9. November 1938 fanden im gesamten Deutschen Reich Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung statt.
Geschichtsbewusste Deutsche sehen die historischen Wurzeln des Mauerfalls und seiner weit reichenden Folgen im gewaltfreien Protest der Bevölkerung der DDR. Dieser drückte sich in den „Montagsdemonstrationen“ aus. Im Anschluss an Gottesdienste gingen ab dem 4. September 1989 regelmäßig Bürgerinnen und Bürger auf die Straße. Sie forderten offen das Ende der SED-Alleinherrschaft und Grundrechte. Ihre Losungen „Wir sind das Volk“ sowie „Keine Gewalt“ wurden zum Markenzeichen der Bewegung.
In Polen hat man eine etwas andere Sichtweise auf das Ende des menschenverachtenden Sozialismus. „Es begann in Polen“ - dies ist die Einstellung weiter Teile der polnischen Bevölkerung. Die Regierung in Warschau wählte diesen Satz sogar für eine Kampagne zum 20. Jahrestag der Wiedererlangung der Souveränität. Und in gewissem Sinne stimmt es auch: Als man in Leipzig und Magdeburg noch demonstrierte, waren in Polen bereits nach einem „Runden Tisch“ zwischen Opposition und Regierung teilweise freie Wahlen abgehalten worden. Tadeusz Mazowiecki stand der ersten nichtkommunistischen Regierung in Ostmittelosteuropa vor. Ihren Weg hatte in den frühen Achtziger Jahren die aus einer nicht enden wollenden Streikwelle entstandene und später legalisierte Gewerkschaft Solidarność (dt. Solidarität) bereitet.
Bedeuten diese Fakten etwa, dass die Menschen in einem der beiden Länder einem Irrtum erlegen sind? Und welche Seite vertritt die historische Wahrheit? Wer versetzte dem Sozialismus nun den Todesstoß?
Diese Fragen sind falsch gestellt. Jedes Volk hat ein Recht auf seine eigene Geschichte. Und viele Völker - auch das tschechische und das ungarische beispielsweise - haben Anteil am Ende des menschenverachtenden Sozialismus in Europa. Wichtig und lehrreich ist es, die geschichtliche Perspektive anderer Völker zu kennen. Dies trifft besonders auf Nachbarn zu.
Ein Vergleich: Menschen interessieren sich für die Erlebnisse und Erfahrungen ihrer Nächsten. Auch wenn sie ihr eigenes Leben führen, ziehen sie doch Parallelen zu Anderen, versuchen Entscheidungen und Erlebnisse anderer zu verstehen ... oder kritisieren diese auch. Zwischen Staaten und Kulturen sollte es nicht anders sein.
Deutschland feiert seine Wiedervereinigung am 3. Oktober. Sie war eines der bedeutsamsten Elemente des Endes des Kalten Krieges. Ein Volk - endlich wieder vereint. Der Grundstein hierfür wurde nicht zuletzt in Polen durch die Solidarność gelegt. Vielleicht kann man sich auf diesen Kompromiss einigen?
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