Wo ist die Solidarität geblieben?
In ganz Europa wird über das Thema Flüchtlinge debattiert. Neue Quoten statt der Dublin-Verordnung werden von den am stärksten betroffenen Ländern gefordert. Die östlichen Mitgliedsstaaten weigern sich beharrlich, Flüchtlinge aufzunehmen. Wie ist die Stimmung in Polen?
Aufgrund der Flüchtlingskrise kritisieren westeuropäische Politiker die neueren Mitgliedsstaaten für ihre mangelnde Solidarität. Auf Polnisch übersetzt heißt dieses Wort Solidarność und hat in Polen eine ganz besondere Bedeutung. Solidarność, das war die Gewerkschaft, die den friedlichen Systemwechsel erreichte. Solidarność war eine Massenbewegung, die im Ausland bewundert wird. Ohne Solidarność wäre der Eiserne Vorhang wahrscheinlich weniger friedlich und später zerrissen.
Solidarität hat die weitverstreute polnische Diaspora in vielen Krisen stark an die slawische Heimat gebunden. Ohne Solidarität wäre die Untergrundarmee im 2. Weltkrieg von innen zerbrochen. Emigrierte Künstler kritisierten später das kommunistische Regime, blieben aber solidarisch verbunden mit ihren Landsleuten. All diese historischen Beispiele zeigen, dass Solidarität eng an die Nation gebunden ist. Polen hat ein ganz anderes und stärkeres Nationalgefühl als Deutschland, auch weil es sich so oft gegen aggressive Nachbarn wehren musste.
Das zusammen genommen, macht Polen zu einem sehr sensiblen Land, wenn es um nationale Fragen geht. Gesteigert wird das nun auch noch durch den Wahlkampf. Im Oktober sind Parlamentswahlen und die regierende Bürgerplattform PO hat erst im Mai das Präsidialamt an die konservative PiS verloren. Regierungschefin Ewa Kopacz wird sich keinerlei politische Zugeständnisse trauen, denn die PiS bedient mit der Kritik an der EU und an Ausländern eines ihrer Lieblingsthemen. Die christlich-konservative Partei sieht sich auch als Sprachrohr der katholischen Kirche. Umgekehrt sieht die Kirche ihren Einfluss am besten durch PiS-Politiker gesichert. Nur vereinzelte Bischöfe folgen Papst Franziskus und nehmen Flüchtlinge auf. Liest man die negativen Schlagzeilen zur Flüchtlingsdebatte, scheint Polen bedroht zu sein, von einer als Völkerwanderung getarnten Schar IS-Kämpfer überrollt zu werden. Diese Angst ist vor allem eine Angst vor dem Unbekannten.
Polen ist faktische ein ethnisch homogenes Land. Es hat eine lange Tradition als Auswanderungsland, aber sieht sich erst jetzt mit einer Möglichkeit einer Einwanderungsfrage beschäftigt. Spanier und Italiener auf Arbeitssuche wurden zwar bereits von der Gazeta Wyborcza porträtiert. Doch diese geringe Zahl an Migranten konzentriert sich auf die Customer Service Zentren Krakau, Breslau und Warschau. Außerdem handelt es sich bei den südeuropäischen Ländern um Staaten mit ähnlich starker und präsenter katholischer Tradition. Doch das Bild Polens als reiner katholischer Staat mit einer nahezu hundertprozentig polnisch sprechender Bevölkerung ist jünger als man glauben mag. Das Krakauer Königreich der Jagiellonen umfasste im polnisch-litauischen Herrschaftsgebiet diverse Ethnien und Religionsgruppen. Noch in der 2. Republik in der Zwischenkriegszeit waren nur 70 % der Bevölkerung „polnisch“ in der heutigen nationalistischen Auffassung. Polen war Heimat vieler europäischer Juden, sogar eine muslimische Tatarenminderheit lebt bis heute im Nordosten. Jenseits der heutigen Grenzen lebten einst auch orthodoxe Weißrussen und Ukrainer nicht unbedingt begeistert unter polnischer Herrschaft.
Inzwischen kommt Kritik auch von Experten dieser verworrenden Geschichte und sie kommt grade deswegen. Auch die polnische Diaspora ist sich bewusst, wie oft sie in anderen Ländern großzügig aufgenommen wurden. Der Princetoner Geschichtsprofessor Jan Gross mit polnischen Wurzeln warf den Osteuropäischen Staaten in einem Kommentar in der WELT mangelndes Schamgefühl vor. Die EU-Mitgliedschaft wurde dabei nicht zuletzt wegen der Finanzspritze der umfangreichen Regional- und Strukturfonds freudig begrüßt. Auch hier ist der Grundton: Solidarität besteht nicht nur aus Nehmen.
Auch wenn die Kritik im Ausland streng ist und die lauteste Antwort aus dem nationalistischen Lager zu kommen scheint, gab es durchaus auch in osteuropäischen Städten Solidaritätsbekundungen mit Flüchtlingen. Die Demonstration, die sich in Krakau am Samstag, dem 12. September unter dem Denkmal des Nationaldichters Adam Mickiewicz versammelte, war vielleicht nicht groß. Doch diese Menschen ließen sich von den grimmig dreinblickenden, aber überwiegend stummen Nationalisten am Rande nicht einschüchtern. Liebevoll selbstgemalte Schilder ragten vor der Marienkirche in die Höhe und die Menge forderte „Solidarität mit Flüchtlingen!“. Da war also ein Funken dieser Solidarność.
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