Von dem, was es nicht gibt und jenen Dingen, die ich glaube, zu vermissen
Trotz des neu gewonnenen Schatzes an Erfahrungen gibt es Lücken, die sich für minusmalminusistplus in Schweden nicht füllen werden.
Da ist der See hinter dem Haus, neben der Bushaltestelle, der einlädt, nicht gleich nach Hause zu gehen, sondern an seinem Ufer zu sitzen und über sein Geheimnis aus Tiefe und Kälte beeindruckt zu sein und über Dinge nachzudenken, die man nach fast drei Monaten in Schweden immer noch vermisst.
Zum allergrößten Beispiel meine Band, die in Hamburg Konzerte spielt, die ich nicht miterleben werde, die weiter wächst und sich weiter entwickelt, ohne meinen Einfluss und ohne mein Instrument. „Wir werden dich nicht ersetzen, dein Platz bleibt so frei, bis du wieder da bist.“ haben sie mir zum Abschied gesagt und ich fühle immer wieder große Dankbarkeit dem gegenüber und denke darüber nach, für welches eine Konzert ich nach Deutschland fliegen werde, um den Gutschein einzulösen, den sie mir geschenkt haben und über meinem Schreibtisch im Büro an der Wand hängt, damit ich den Anschluss nicht verliere.
Und ich vermisse die Dienstagabende im Probekeller und die Diskussionen über Soli und Akkorde und das Improvisieren von Melodien, wenn die Posaune und die Geige und der Kontrabass mich leise begleiten.
Und ich vermiss manchmal meinen Chef in Deutschland, der immer AC/DC hört und manchmal hob die Musik seine Bürotür aus den Angeln und ich vermisse die Momente, wenn ich im Schneideraum sitze und Take für Take aneinander schneide, bis Szene 34 bis 38 auf einmal Teil einer Geschichte geworden ist, wie ein Puzzle, das immer größer wird und ich denke dann immer an die Abende, an denen ich um halb sieben zum Telefon griff und das Produktionsbüro anrief und mit rhetorischem Geschick darum bat, dem Kopierwerk laut zu sagen, dass sie sich beeilen sollen, wenn sie morgen früh um neun die Muster vom letzten Drehtag sehen möchten. Und ich werde meinen Namen auf der Kinoleinwand nicht sehen, weil der allererste Kinofilm, für den ich schwitzte und fluchte, garantiert nicht in Schweden laufen wird und finde das nicht schlimm, weil die Produktionsassistenten immer so nett und die Dialekte der Herstellungsleitung manchmal so seltsam sind, dass es gelegentlich eine große Freude ist, in diesem Business ohne Feierabend zu arbeiten und nach Feierabend zu Hause in den tiefen meiner Festplatte nach Musik zu suchen, die so gut zum Drehbuch passt, dass der Regisseur beim Betrachten des Rohschnitts aus den Latschen kippen wird.
Und ich vermisse manchmal die Gespräche mit meinem Exfreund über verflossene Beziehungen, die wie Regen ihren Weg stromabwärts die Elbe genommen haben und wie wir manchmal bei Wein und selbst gebackener Pizza dem Getöse der S-Bahn nach Wedel lauschten, jeder in Gedanken versunken und wie die Vergangenheit über uns hinweg fegte und wir uns nie gestritten und trotzdem getrennt haben und wir jetzt immer noch gute Freunde sind.
Und wie vermisste ich an Ostern nicht in der alten Heimat zu sein um am Grab meines Bruders zu verweilen und mich daran zu erinnern, wie er war und ihm wenigstens in Gedanken zu erzählen, wie wild das Leben ist und was er verpasst und dass ich vielleicht den Erwartungen meines Alter nicht entspreche, weil Alter irgendwann nur noch zum Bilanzieren und Bewerten und Vergleichen nützlich ist und ich ja eigentlich der kleine Bruder gewesen bin, der in seinem guten, wilden Leben einfach die Dinge machen möchte, die gerade passieren und die man machen kann, egal ob sie andere Menschen dumm oder unerwachsen finden, weil ich um Erfahrungen bereichert wurde, die zu viele Beerdigungen unausweichlich mit sich bringen. Es tut weh, engen Verwandten und guten Freunden, die verstorben sind, nicht von den Erlebnissen, die ich hier mache, berichten zu können und Unterhaltungen mit ihnen finden dann nur noch in meinem Kopf statt. Über Dinge, die mich überwältigen und beeindrucken wie ein lauer Hurricane, wie ein zahmer Tsunami, wie ein weicher Hagelschauer zwischen meinen zwei Polen im Kopf – wie ein schönes Unwetter zwischen Vernunft und Wahnsinn.
Ich ließ vieles in Deutschland zurück und ich habe manchmal das Gefühl, je länger ich hier bin, desto mehr fällt mir ein, was es hier in Schweden niemals geben wird. Und genauso fällt mir gleichzeitig ein, was es nur in Schweden gibt und ich in Hamburg bestimmt vermissen werde.
Da ist morgens der Weg zur Bushaltestelle, den ich immer ganz langsam gehe, weil ich diese vier Minuten mag, wenn die Straße schweigt bevor der Bus kommt und die Sonne sich durch die Zweige kämpft und ich genauso schlaftrunken in der Linie nach Gullmarsplan sitze, wie alle Leute – mit Musik aus alten Tagen im Ohr, aus meinem alten Nokia.
Da ist mein Büro im Süden von Stockholm, das ich jeden Tag Punkt halb zehn betrete und manchmal auch später, wenn die Sonne morgens scheint und ich beschließe, nicht die Ubahn zu nehmen, sondern über die Brücke von Gullmarsplan nach Skanstull zu laufen, den Blick auf die Stadt gerichtet, die da liegt wie ein schlafendes Tier und an der Ecke zur Hauptstraße betrete ich dann manchmal den kleinen Kiosk, um mir einen Maschinenkaffee und Kanelbuller zu kaufen, die eigentlich nur schmecken, wenn die Sonne scheint.
Und im Büro begrüßt mich meine Cheffin, die sich immer ganz doll darüber freut, dass ich so schnell Anschluss und Freunde gefunden habe, so dass ich nicht jedes Wochenende den Nachtbus nehmen muss, den es hier zu meinem kleinen Dorf übrigens nicht gibt, sondern in der Stadt schlafen kann. Und da sitzt Margretta, die Ruhe in Person und grübelt über Risikomanagementhandbücher nach und kommt dann immer zu mir, wenn sie mal wieder eine Grafik braucht und sie fragt dann immer ganz leise und besinnlich: „Du, Robert, du hast doch Photoshop auf deinem Notebook, ich brauch da mal 'ne Grafik, das sind mir einfach zu viele Wörter“ und sie freut sich, wenn ich sage „ingen problem“ und sie sagt dann immer, „lass dir ruhig Zeit.“
Und da ist Marcel, der über alles Bescheid weiß, die ich wissen muss und der manchmal mit komischem schwäbischen Akzent jene Dinge erklärt, die für unser englisch und schwedisch zu kompliziert sind und dann schaut Gunella immer auf, die in der anderen Büroecke sitzt und immer ganz traurig wird, wenn sie die Abrechnung über die Muffins in ihren PC eintippt, die sie nie zu kosten bekommt, weil sie nur drei Mal in der Woche im Büro ist und ausgerechnet freitags das Muffinranking stattfindet (Lyxchoclat führt die Liste unangefochten an).
Und nicht zu vergessen, Frieda, die mich über Stade ausfragte, weil sie da bald hin fliegt und Jenny, die bald geht, weil ihr Bauch immer dicker wird und im Juni hat sie dann eine Familie und dafür kommt Johann nächste Woche neu ins Büro und Ulrika ist auch manchmal da, die sieht aus, als ob sie immer angejoggt kommt und fragt mich, wie es mit meinem Schwedisch steht.
Und ich bin jeden Tag Teil dieser kleinen Mannschaft, die eigentlich mein Projekt ist und überarbeite mit komplizierten Grafikprogrammen die Broschüren und Infobücher meiner Organisation und im Kopf denke ich immer an Oktober, weil dann große Dinge passieren, mit ehemaligem Außenminister und Friedensnobelpreisträger und ganz ganz viel Pommpomm und man traute mir die Gestaltung des Logos an und die Einladungen müssen die Tage fertig werden und eigentlich müsste ich mich noch um die Schulkontakte kümmern, weil es systempolitisch bedingt nicht einfach ist, Austauschschüler in Schweden zu platzieren.
Und dann ist da der Feierabend. Oh, ich mag den Feierabend in Stockholm, diese schönste Zeit am Tage, wenn alle Zeit haben, in den Straßen zu sitzen oder in Parks oder in Gaststätten und Pubs und auf den Plätzen in der Mitte der Stadtarchitektur passieren seltsame Dinge, wie neulich, als auf dem Medborgarplatsen irgendein Vorstadt-DJ seine Musik aufgelegt hat. Und nebenan spielten zwanzig Leute Fussball, zwischen U-Bahn-Treppe und Kulturhaus an einem Montagabend inmitten derer, die eigentlich nur nach Hause gehen oder einkaufen wollen und keine Polizei weit und breit, die unbesonnenen Bürgern einen Dienst erweisen.
Und manchmal meldet sich Pej, dem ich ein Besuch in Frankreich versprochen habe oder Tobi, mit dem ich noch ein Roadtrip durch das Stockholmsche Umland machen werde oder Mariu, die meint, ich solle sie mal in Spanien besuchen, und fragen mich, was ich am Wochenende mache, denn irgendwer ist irgendwo auf einer Party eingeladen und alle dürfen mitkommen. Und ich brauche nicht mehr darum zu bitten, denn alle sagen von ohne dass ich darauf zu sprechen kommen muss: „Du kannst auch bei mir pennen.“ Und dann ist alles gut, dann ist alles erledigt und von weitem sieht man Flugzeuge in Bromma landen und da kommen wieder Leute in die Stadt, von überall her.
Und manchmal verzichte ich auf den Direktbus nach Hause und nehme statt dessen lieber den Pendelzug nach Hanninge und dann erst die 839 Richtung Dalarö, denn der Zug ist ruhiger und bequemer, da kann ich besser Tagebuch schreiben und all die Dinge gefangen nehmen, die es nicht zu vergessen gilt. Und ich freue mich auf meine Gastfamilie, mein finnischer Gastvater, der nach der Wahl in Finnland erzählt hat, dass er die schwedische Staatsbürgerschaft beantragen möchte und während wir uns über europäische Politik unterhalten, kocht meine Gastmama auf einem alten Holzofen in der Küche das Abendessen, das in Schweden übrigens Middag heißt, was mich anfangs sehr verwirrte. Und manchmal, wenn ich nach Hause komme, duftet das Haus nach Marmelade, weil meine Gastmama es liebt, aus vielen vielen Trauben Sirup zu machen, wenn sie nicht gerade an ihrem Webstuhl sitzt und Teppiche knüpft.
Und wenn ich dann aus dem Bus steige, inmitten dieser Ruhe zwischen Wald und Wasser, blicke ich zum Himmel und wenn die Sonne abends noch scheint, schlage ich eine andere Richtung ein.
Da ist der See hinter dem Haus, neben der Bushaltestelle, der einlädt, nicht gleich nach Hause zu gehen, sondern an seinem Ufer zu sitzen und über sein Geheimnis aus Tiefe und Kälte beeindruckt zu sein und über Dinge nachzudenken, die man nach fast drei Monaten in Schweden immer noch vermisst...und die ich in Hamburg vermissen werde.
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