Vielen Dank für die Blumen
"Ist heutzutage in Europa nicht alles ganz einfach?" Sollte man meinen, ist es aber nicht. Vor allem dann nicht, wenn man für die Liebe sein Heimatland verlassen und ins Unbekannte gehen soll.
Es mag einfacher aussehen als es ist.
Ein Freund, dessen Freundin Französin ist und deren Fernbeziehung seit Ende unseres EVS in Frankreich glorreich begonnen hat, machte mir vor kurzem eine traurige Mitteilung. "Claire sagt, sie habe zuviel Angst hier nach Deutschland zu kommen um hier zu leben."
Oh herrjeminee... Wie geht das denn?
Ich kenne die beiden und mir dreht es immer noch den Magen um, wenn ich daran denke. Die Armen. Ich hoffe sie finden einen Weg.
Andererseits habe ich mir auch meine Gedanken gemacht.
Warum hat man denn Angst in ein fremdes, unbekanntes Land zu gehen, wo man keine Menschenseele kennt, geschweige denn mal im Urlaub war und von der Sprache grob gesagt höchstens "Bahnhof" versteht?
Wieso sollte man Zweifel haben, ob man es schafft eine Arbeit zu finden, Freunde, ein Leben, einen Sinn?
Ist heutzutage in Europa nicht alles ganz einfach und eigentlich sind es nur wir, die uns in unserem Kopf innerlich Mauern und Steine in den Weg werfen?
Aber was machst du, wenn du als Franzose plötzlich in der deutschen Hauptstadt stehst und dich all diese Menschen, dieses Riesenangebot und alle diese Erwartungen überrennen? Schon ich bin ja von Berlins Größe und seinen Leuten recht beeindruckt, aber ich bin Deutsche... haha Jackpot!
Ach, und wo findet Claire dann Arbeit? Sie kann zwar kein Wort Deutsch, oder sagen wir mal, doch, sie kann sich ja immerhin höflich verabschieden. Das ist ja schon mal gut!
Aber hey, da sie sicherlich zahlungskräftige Eltern hat, denen es nebenbei sicherlich auch nicht das Geringste ausmacht, dass sich ihre Tochter so hals- und kopflos in ein vages Abenteuer stürzt, wird sie sich schon erstmal ne eigene Wohnung und schnickschnack finanzieren können.
Soll sie halt arbeiten gehen! Arbeitslose gibt es bei uns genug, dafür braucht sie nicht herkommen. Und selbst wenn sie sich im Lidl mit den Kartons halb tot schleppt und sich nach den 12 Stunden "Männerarbeit" fühlt wie gerädert, darf sie sich aber mindestens nicht (!) beschweren.
Ich verstehe Claire.
Was, bis auf ihren eigenen Freund, sollte sie um Himmels Willen dazu treiben, so hirnlos alles zurückzulassen und nach Deutschland zu kommen?
Das schöne Land? Die Kultur? Denker und Künstler? Das Essen? Unser beeindruckendes kapitalistisches Bildungssystem was es geradezu zu einem Kinderspiel macht jugendliche Ausländer aufzunehmen?
Aber was rege ich mich eigentlich so auf?
Aufregen? Nein. Ich stelle nur fest.
Ich stelle fest, dass ich über meinen eigenen Schatten gesprungen bin und mich höchstpersönlich selbst ins kalte Wasser katapultiert habe. Wäre es mutiger gewesen das Ganze abzublasen? Vielleicht. Aber auch einfacher.
Jetzt sitze ich hier. Gerade bin ich erkältet und habe bösen Husten. Aber ich bin verdammt glücklich. Hier scheint die Sonne, es sind beinahe 20° und ich tüftele in meinen Grammatikbüchern.
Ich konnte mich auch nur halbwegs begrüßen, vorstellen und verabschieden als ich hier angekommen bin. Aber inzwischen verstehe ich das meiste und kann selber Gespräche führen. Und das in zwei bis drei Monaten.
Schon nach der ersten Woche hier hatte ich zeitweise Jobs und bin nach wie vor auf Abruf und zeitweise unter Vertrag. Zudem helfe ich meiner "Schwiegermutter" in ihrem Atelier, restauriere sämtliche Objekte die Bandbreite durch je nach Auftrag und gebe auch mal ein paar Stunden selbst.
Zuhause koche ich für den Rest der Familie und bin stets zur Hausaufgabenhilfe bereit.
Dann gebe ich einmal pro Woche Deutschunterricht und versuche auch sonst möglichst weit im Erlernen der Sprache voranzukommen.
Es ist manchmal nicht ganz einfach.
Es ist manchmal nervig, manchmal anstrengend und es geht alles nur langsam von statten. Aber ich habe im letzten Jahr gelernt einen Schritt vor den anderen zu setzten und werde mich daher auch nicht jetzt und hier aus der Ruhe bringen lassen.
Ich merke, besser als vorher, dass ich dem hier gewachsen bin. Und dass ich es langsam aber sicher schaffen kann.
Und dennoch habe ich mir eine Frist gesetzt.
Denn natürlich habe ich trotzdem Angst. Habe Bedenken, Zweifel.
Und genau das ist es doch auch, was mir, was uns Recht gibt.
Arme Claire. Vielleicht überlegt sie es sich noch zu ihrem Freund nach Berlin zu kommen. Ich wünsche es den beiden sehr.
Was ich ihnen auch wünsche, neben genug Vertrauen, Lebensmüdigkeit und Euphorie ist, dass alle anderen um sie herum es ehrlich mit ihnen meinen.
Denn das Schlimmste was es gibt, ist die Kritik, die sich erst dann gegen einen erhebt, wenn man sich schon längst auf und davon gemacht hat. Von Menschen, die einem all das nicht zutrauen, ohne aber überhaupt über die Realität bescheid zu wissen.
Ich persönlich bezweifle stark, dass das zu einer guten Motivation beträgt, kommende Hindernisse zu überwinden.
In diesem Sinne: Alles Gute für dich, Claire!
Danke.
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