Verstanden? Ja. Nein. Vielleicht?
Ein Jahr in Istanbul, ein Jahr in einer Umgebung, deren Sprache ich kaum verstehe. Wie bewegt man sich unter diesen Bedingungen durch den Alltag? Welche Implikationen hat Sprache? Ist Sprache Heimat? Erst mit dem Erwerb der Sprache können wir wirklich in eine uns fremde Kultur eintauchen. Schritt für Schritt näher ich mich diesem Ziel, mit mehr Rückschlägen als Fortschritten, tollen und frustrierenden, lustigen und verblüffenden Momenten.
Istanbul – die Brücke zwischen Europa und Asien, zu nah für Fremde, zu weit entfernt für Vertrautheit. Als Studentin tauche ich ein in die Welt am Bosporus, erst nur für ein Semester, dann für zwei. Ich möchte nicht mehr gehen. Ich bin gekommen, um zu bleiben. Trotz mangelnder Türkischkenntnisse. Doch in diesem Jahr lerne ich die vielen Implikationen von Sprache kennen. Sprache ist Protest. Sprache ist Alltag. Sprache ist Gestik. Sprache ist oft eine Hürde und manchmal eine Brücke.
Ein Crashkurs in Deutschland, ein Intensivkurs vor Ort – doch was kann ich jetzt schon ausdrücken? Die Laute sind so fremd, die Satzstruktur grundlegend verschieden. Mein Mitbewohner sagte mal „Türkisch ist die Sprache des Lästerns, des Gossips. Erst am Ende des Satzes erfährst du die Aussage. Wenn du nur Bruchteile aufschnappst, hast du keine Ahnung worum es geht“. Wie Recht er hat. In diesem Jahr werde ich zum Lauscher. Ich folge fremden Gesprächen, im Bus, in der U-Bahn, auf der Fähre. Es erfüllt mich mit Stolz, so nichtige Sachen zu verstehen, wie die Uhrzeit für ein gemeinsames Familienessen, den Treffpunkt für eine Partynacht, die Einkaufsliste für den nächsten Tag. Doch die wichtigen Informationen, die erfasse ich nicht. Meine Konzentration lässt nach oder mein Vokabular reicht nicht aus. Und doch verstehe ich mehr als vor einem halben Jahr, mehr als vor einem Monat, mehr als Gestern. Jeden Tag ein Wort, jeden Tag ein Schritt.
Sprache ist Alltag. Manchmal habe ich das Gefühl ich rede in Floskeln. Alles ist „cok güzel“ (sehr schön), alles ist „harika“ (großartig). Das erste Wort, das in mein Langzeitgedächtnis vordringt ist „kalabalık“ – es bedeutet so viel wie „Gedränge“ und „überfüllt“. Einmal gelernt, kommt es mir ständig in den Sinn, wenn ich mir den Weg durch Istanbuls Hauptstraßen bahne. Die Gemeinschaft als Ganzes spielt in der Türkei eine ganz andere Rolle als in Deutschland. In alltäglichen Wendungen wird mir das immer wieder bewusst. Wird geniest, wünscht man „Çok yaşa!” (ein langes Leben). Die passenden Erwiderungen “Hep Beraber” (alle zusammen) oder "Sende gör" (dir auch) verdeutlichen das Denken über die eigenen Belange hinaus. Doch wie weit geht dieser Gemeinschaftssinn? Welchen Platz hat das Individuum in der Gesellschaft? Wann verschwindet das ”Ich” im “Wir”? Seltsam ist, dass sich die unterschiedliche Stellung von Mann und Frau nicht in der Sprache widerspiegelt. In der dritten Person gibt es nur das Pronomen “o”. Kein Unterschied zwischen maskulinum und femininum. Kein er, kein sie. In der Sprache ist das Geschlecht neutral.
Das Wort “arkadaşler” –“Freunde”, ist auch so eine Überraschung. Ein wunderbares Wort, dass so viel Positives, Beständiges, so viele Erinnerungen beschreibt. Für diese Art der Freundschaft gibt es zwar auch das türkische Wort “dost”, doch wird es viel seltener genutzt, “arkadaşler” jedoch geradezu inflatiös. Zur Begrüßung der Studenten in der Universität, in einer Ansprache zu versammelten Nachbarn, Mitbewohnern oder Kollegen. Wird die Institution der Freundschaft damit nicht entwertet? Oder zeigt es vielmehr, dass der Kontakt zu jedem dieser Menschen das Potential einer besonderen Beziehung in sich trägt?
Sprache ist Protest. Kaum ein Satz spiegelt dieses Jahr ab dem Sommer 2013 so intensiv wieder wie der Satz „Bu daha baslangıç mücadeleye devam“- „Das ist erst der Anfang, der Aufstand geht weiter“. All die Aufbruchsstimmung, die Hoffnung, der Enthusiasmus, das politische Erwachen der Gezi Proteste, all die kleinen und großen politischen Skandale sind darin inbegriffen. Immer wieder aufs Neue gerufen, auf Konzerten, Kundgebungen, auf Hauswänden geschrieben, auf Notizbücher gedruckt, im Internet verbreitet. Als ich den Satz das erste Mal voll verstehe, weicht das Gefühl der Fremde, einem Gefühl der Zustimmung und einem langsamen Gefühl der Zugehörigkeit.
Sprache ist Gestik. Oder Gestik ist Sprache. Ich bin erkältet, kriege vor Heiserkeit kein Wort heraus. Diesmal scheitert die Verständigung nicht an mangelnder Sprachkenntnis, sondern an mangelnder Stimme. So trage ich zur Belustigung der gesamten Apotheke bei. Und erhalte am Ende trotzdem Nasentropfen und Hustensaft. Auch das Wort für „Locher“ ist in meinem Vokabular nicht enthalten. Mit pantomimischem Geschick erkläre ich in dem 3m² großen Schreibwarenladen dennoch was ich benötige. Ebenso, dass ich einen längeren Gürtel brauche, das Pide mit Käse möchte oder die Kinokarten für die letzte Reihe. Das gemeinsame Lachen über den Erfolg verbindet mich immer wieder mit den Menschen hinter dem Tresen. Und ich frage mich wie viele deutsche Verkäufer in den 60er Jahren ebenso mit den türkischen Gastarbeitern gelacht haben. Irgendwann ist es Zeit für einen Friseurbesuch, ein paar Zentimeter sollen runter, die Kante „çok düz“, ganz gerade. Kann ja nichts schief gehen. Klappt auch alles. Beschwingt von meinem Erfolg will ich mir auch gleich noch die Augenbrauen zupfen lassen, zeige immer wieder auf meine unförmigen Exemplare - die dann gefärbt werden, statt gezupft. Da hab ich wohl was verwechselt.
Herta Müller hat einmal gesagt "Sprache ist keine Heimat, man nimmt eine Sprache ja mit in ein anderes Land." Aber kann ich nicht auch ein bisschen Heimat mitnehmen? Der Ansturm an Deutschen Erasmus Studenten in Istanbul, der unwillkürlich dazu führt, dass man immer wieder Deutsch spricht, lässt uns weniger fremd fühlen, in der Fremde.
Und wenn ich irgendwann, irgendwo jemanden “Istanbul” sagen höre, mit Betonung auf der zweiten Silbe, mit langem a, dann wird mir der Geruch des Bosporus in die Nase steigen, die Rufe der Straßenverkäufer in den Ohren klingen und der Geschmack von Çiköfte auf der Zunge nachwirken. Ich werde ein Stück, ein kleines auf wackligen Füßen stehendes Stück Heimat, mitnehmen.
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