Unabhängig wandern am Tag der Unabhängigkeit
Ein schöner Tag in der Natur des Zobtenberges mit meiner Mitbewohnerin. So habe ich den Unabhängigkeitstag fern der offiziellen Veranstaltungen und Demos verbracht
Ich muss zugeben, auch dieser Text erscheint wieder reichlich verspätet…
Seit der obligatorischen zweiwöchigen Klassenfahrt meiner Schule am Ende der 9.Klasse, hatte ich dem Wandern eigentlich abgeschworen. Da aber mein Bruder aufgrund des Bahnstreiks leider nicht zu Besuch kommen konnte, war mir nach drei Tagen frei haben, dann doch etwas langweilig. Auch ein Bar-Besuch und ein Gang in den polnisch-evangelischen Gottesdienst konnten nicht die gewünschte Abwechslung bieten. Also war ich erleichtert als meine Mitbewohnerin Paula vorschlug, am Unabhängigkeitstag wandern zu gehen. Denn an diesem dürfe man nichts im Haushalt machen oder deine Nachbarn erklären dich für verrückt. Ein bisschen so wie die Tage nach Weihnachten.
Gesagt getan sind wir um 7.00 aufgestanden (an einem freien Tag), in einen nicht vertrauenserweckenden Polbus gestiegen und rund 15 km nach Sobótka (Zobten am Berge) gefahren zum wohl bekanntesten Berg von Dolny Ślask dem Ślęża (Zobtenberg). Wandern und Klettern scheint ein beliebtes Hobby der Polen zu sein, deshalb ist der höchste Gipfel des Zobten-Massivs (rund 700 Meter) an Feiertagen besonders stark frequentiert. Die meisten Wanderer haben wir aber erst auf dem Gipfel gesehen, weil sie sich für den Familienweg entschieden haben. Es war wunderschön mal wieder in der Natur zu sein. Denn so sehr ich die Stadt Wroclaw und seine vielen Möglichkeiten mag, zu Ruhe komme ich am besten im Grünen. Und gerade jetzt im Herbst ist es besonders schön, wenn die teils vermisste Sonne zwischen den kahler werdenden Bäumen erstrahlt, das Laub funkelt und man sich nur auf den Weg und sich selbst konzentriert. Unsere Strecke war der perfekte Mix aus Anstieg und Erholung auf flacheren Abschnitten. Das letzte Drittel des Weges war mit alten, groben Steinen „gepflastert“. Teilweise gab es auch eine Vertiefung des Weges und ein durch eine Kante abgegrenzter Weg. So als hätten die Menschen früher schon Straße und Gehweg errichtet. Der Berg liegt auch nur wenige Kilometer von Zachowice entfernt, dem kleinen Ort meiner Großmutter und ihrer Familie. Vielleicht sind sie ja auch auf den Berg gewandert?
Denn auf dem Gipfel befinden sich eine Kirche und ein altes Gasthaus. Als wir dort waren, wurde gegrillt, Geburtstag gefeiert und erholt. Die Kirche ist auf einem Hügel errichtet, von wo aus man eine wunderbare Aussicht über Niederschlesien hat. Entsprechend des Unabhängigkeitstages hingen vor der Kirche neben der Vatikanflagge Polen-Flaggen. Einige Leute haben selbst eine Fahne zum Wandern mitgenommen, sehr zur Freude von Paula. Für mich ist das alles ein bisschen komisch. Über jeder Haustür wurde eine Fahne angebracht. Ich kam mir vor wie in Amerika. Klar haben wir auch Fahnen zur WM zum Beispiel, aber nicht über jeder Haustür und auf den Dörfern an jedem zweiten Laternenpfahl.
Was wird überhaupt gefeiert an diesem Tag? Nach einer 123-jährigen Teilung Polens durch Preußen, Österreich-Ungarn und Russland entstand nach Ende des 1. Weltkrieges (11.11.1918) erstmal wieder ein souveränes polnisches Gebiet, die zweite polnische Republik unter Józef Piłsudski. Denn die Nation der Polen bestand lange Zeit nicht, denn Polen liegt historisch gesehen ungünstig zwischen Westeuropa und Russland. Je länger ich in Polen lebe umso begreife ich das Land als eigenständige Kultur und nicht einfach nur als Osteuropa. Denn auch wenn ich in manchen Eigenschaften durchaus osteuropäische Züge erkenne, ist Polen doch viel westlicher als erwartet. Es ist ein Zwiespalt, der sich eben auch in der Geschichte wiederspiegelt.
Nach 5 Stunden wandern, in denen ich meine während der Klassenfahrt erworbenen Abneigung gegenüber dem Wandern abgelegt habe, habe ich dann mal wieder das polnische Verständnis von Pünktlichkeit erfahren. Der Polbus kam 1,5 Stunden später als geplant! Wir denken in Deutschland auch, dass der Bus unpünktlich ist. Nur liegt die Toleranzgrenze bei ca. 5 min. Hier liegt sie bei rund 45 min. Aber gut, so lange man das weiß, kann man sich darauf einstellen. Immerhin hatte ich einen Sitzplatz und bin beim sanften Schaukeln des Busses erschöpft, aber glücklich, eingeschlafen.