Umzugstricks und andere Sensationen
Bianca entdeckt in Frankreich alte Bekannte und spektakuläre Gesetze. Außerdem hat sie viel Spaß mit der wirren Bürokratie, allerlei Workshops und merkt, dass ihr Leben aus vielen glücklichen Zufällen besteht.
Salut tout le monde!
Ich hoffe, es geht Euch allen gut in diesem außergewöhnlichen Winterwetter! Bei uns ist immer noch kein Schnee in Sicht, Brive liegt wirklich in einer einzigartigen meteorologischen Nische… Ringsum findet man Schnee, keine zwei Kilometer entfernt, aber hier - nichts! Nicht, dass ich die Kälte allzu sehr vermissen würde, aber zur Weihnachtseinstimmung ein bisschen weiße Pracht, das wäre schon nett! Na ja, nicht zu ändern.
Diese Woche war wirklich ereignis- und informationsreich (kaum zu glauben, oder?). Gut, den Montag können wir ausklammern, denn den habe ich komplett im Krankenhaus verbracht. Bei der Gelegenheit kann ich mal wieder eine der Fragen beantworten, die mich hier erreichen: was zur Hölle mache ich eigentlich im Krankenhaus? Nun, ich bekomme eine Infusion, ein Medikament für - oder besser: gegen - meine chronische Erkrankung. Muss sein, ist aber fruchtbar langweilig; vorher wird erst mal untersucht dann läuft das Medikament mindestens zwei Stunden und danach bleibe ich noch zwei Stunden zur Beobachtung. Unterm Strich vergehen da acht Stunden. In Deutschland habe ich dafür drei gebraucht. Na ja. Das einzige, was ich an solchen Tagen mal ausgiebig machen kann, ist französisches Fernsehen gucken! Dabei habe ich mehrere „deutsche“ Serien in der Übersetzung gesehen (Kommissar Rex und Der Fuchs), was mich irgendwie zum Lachen gereizt hat!
Der Abend jedoch hat mich für den verlorenen Tag entschädigt. Zunächst ist Sonia vorbeigekommen und ich habe sie mit ins FJT (= Foyer des Jeunes Traveilleurs, eine kostengünstige Unterkunft für jugendliche Arbeitssuchende und Saisonarbeiter) genommen, das hier gleich um die Ecke ist. Aber nicht einfach so, nein, es gab schon einen Grund. Im FJT ist nämlich etwas, das Sonia seit ihrem Auszug von zu Hause schmerzlich vermisst: ein Piano! So wurde ich Zeuge eines privaten Konzertes meiner kleinen Schwester, die unter anderem eine nette Jazz-Version von „Für Elise“ auf Lager hatte. Das nächste Mal wollen wir uns gemeinsam an ein Stück wagen!
Je später der Abend, desto interessanter die Diskussionen. Bei meiner Rückkehr in die Gemeinschaftsküche waren unsere Stammgäste bereits versammelt und begrüßten mich herzlich. Bises, Ihr wisst schon. Jedenfalls konnte ich einer interessanten Diskussion über Frankreich beiwohnen, bei der ich einiges gelernt habe. So habe ich zum Beispiel erfahren, dass Umzüge finanziell unterstützt werden. Deswegen ziehen einige Franzosen auch ständig um. Diese Unterstützung ist nämlich sehr hoch dotiert und so bleibt am Ende oftmals ein Tausender oder mehr für die eigene Tasche! Außerdem habe ich von einem - mmh, ich würde sagen interessanten - Recht gehört. Um ehrlich zu sein, kenne ich die deutsche Rechtslage zu diesem Fall nicht, aber hier ist es so, dass man das Einverständnis seiner erwachsenen Kinder braucht, wenn man sein Haus verkaufen will, beziehungsweise die Kinder können einen zwingen, sein Haus zu verkaufen! Erbschaftsansprüche vor dem Ableben der Eltern. Kein Wunder, dass die Franzosen versuchen, sich mit ihren Kindern gut zu stellen! Die haben hier tatsächliche ein Quäntchen Macht!
Dienstag
Der Tag vergeht wie im Fluge und ehe ich mich versehe, naht der Abend mit einer Konferenz von SOS-Racisme in Tulle, bei denen ich angefragt hatte, ob sie nicht mal eine Intervention, eine Diskussion in der JH machen wollen. Es gibt hier in Frankreich erhebliche Integrationsprobleme. Das spiegelt sich auch auf dem Arbeitsmarkt wieder. Man hat zwar inzwischen ein Gesetz der „positiven Diskrimination“ (das heißt wirklich so!) verabschiedet, aber an der Alltagsumsetzung mangelt es total. Positive Diskriminierung heißt, dass man einen gewissen Prozentsatz an Mitarbeitern ausländischer Herkunft vorweisen können muss. Das hilft aber im Alltagsleben nicht viel, wenn Lebensläufe schon abgelehnt werden, nur weil da ein fremd klingender Name steht! Es kann sein, dass der Betreffende französischer Staatsbürger ist, aber das wird ignoriert. Es gibt also tatsächlich Leute, die ihre Wurzeln aufgeben und ihren Namen ändern! Das kann doch nicht das Ziel sein! Denn die Menschen bleiben die gleichen, auch wenn sie sich anders nennen! Ich war geschockt. Diese Gesellschaft ist durchsetzt und vergiftet von Vorurteilen und Ängsten. In dem Film, den sie auf der Konferenz gezeigt haben, meinte jemand, es gebe einen zu großen kulturellen Unterschied. Was heißt das schon, kultureller Unterschied? Das wir nicht alle gleich sind? Das macht es ja gerade interessant! Ils ont rien compris, les Français! – Sie haben nichts verstanden, die Franzosen!
Mittwochmorgen
Pascale und ich gehen zu einer Informationsveranstaltung aller Verbände, Vereine und Clubs in und um Brive. Anschließend bekomme ich einen kleinen Einblick in die französische Verwaltung: die Tresorie, eine Art Staatsschatzkammer. Was ich da zu schaffen habe? Meine Eltern haben eine Rechnung vom Krankenhaus bekommen, intelligenterweise fehlte aber die IBAN, die internationale Kontonummer, die man braucht, um vom Ausland überweisen zu können. Zunächst habe ich im Sekretariat des Krankenhauses gefragt, die mich nach 45 Minuten Wartezeit zur Kasse im Krankenhaus geführt haben. Die wiederum haben mich zur Tresorie geschickt, wo ich nun an diesem Morgen stehe und nach der IBAN frage. Die Frau starrt mich erst an wie ein Gespenst, meint dann, sie habe die Nummer irgendwo, aber sie habe so viele Papiere (Ach! Wirklich!?)… Sie sucht halbherzig auf ihrem mit Papieren bedeckten Schreibtisch und ruft dann eine Kollegin an, damit diese ihr die Nummer. herunterbringe. Administration in Frankreich, organisiert ohne Ende! Bei einer Diskussion mit Annette erklärte sie mir ganz nüchtern, dass „das Haus, das Verrückte macht“ aus „Asterix erobert Rom“ eine wahrheitsgetreue Anspielung auf die französische Administration ist. Schrecklich, aber leider Gottes Realität. Wir seien da im Gegensatz beneidenswert organisiert.
Zum zweiten Mal in Folge darf ich das Auto der Jugendherberge fahren! Dienstag nach Tulle zu der Konferenz und heute, um nach Tujac zu meiner Gesangsstunde zu fahren. Ich weiß nicht, ob Pascale mir endlich vertraut, oder ob ihr bei der „Rédepe“ das erste Mal bewusst geworden ist, dass ich seit zwei Jahren einen Führerschein habe, jedenfalls bin ich jetzt wieder motorisiert! Ich fahre einen Kleinlieferwagen, weißer Renault Express! Keine Servolenkung, aber fahrbar. Es hat vier Räder und rollt, das ist die Hauptsache! Die Gesangsstunde läuft ganz gut, ich habe zwar immer noch ein paar Schwierigkeiten mit der Pronunziation, aber inzwischen hat sich mein Hauptproblem verlagert: ich schaffe es nicht, die Vokale im Hals zu formen, das heißt, möglichst ohne Lippen… Na ja, aber es wird schon besser.
Im Anschluss habe ich bei Paul vorbeigeschaut, der seine neue Wohnung in Tujac bezogen hat. Er hat definitiv Geschmack, was die Einrichtung angeht! Da würde ich mich auch wohl fühlen: leicht asiatisches Flair, Holzfiguren, Fächer, warme Farben, Räucherstäbchen… Wirklich nett. Mit dem Versprechen, mal wieder vorbei zu schauen, beende ich zwei Stunden Tratsch über alles Mögliche und fahre zurück zur JH, wo ein Termin auf mich wartet: ein Treffen mit Emilie, die ein Atelier Créatif (= Kreativworkshop) machen möchte. Kein Problem! Das Kind werden wir schon schaukeln! Sie ist diplomierte Stylistin und nach dem, was ich in ihrer Wohnung bereits gesehen habe, hat sie echt einiges auf dem Kasten! Ich habe sie über JP kennen gelernt, mal wieder ein glücklicher Zufall. Mein Leben scheint nur noch daraus zu bestehen!
Mittwochabend
Gil hat seinen kleinen tragbaren Fernseher aufgestellt, so dass wir während dem Abendessen die Nachrichten sehen können. Ich bin gerade beim Nachtisch als ein Beitrag über Deutschland über den Bildschirm flimmert, um genau zu sein über den Zivildienst. Ich schreie vor Überraschung auf, denn wen sehe ich da in weißer Tracht, interviewt in der Park Klinik Weißensee in Berlin? Rouven S., der Rouven, der mit mir in Geschichte, Philosophie, Musik, Spanisch und was weiß ich wo noch gesessen hat! Unglaublich! Die anderen wollen mir nicht glauben, dass ich den „jungen Mann“ kenne aber ich gebiete Ruhe, um zu hören, was Rouven so zu erzählen hat. Der Bart steht im gut. Europa funktioniert, soviel steht fest!
Donnerstag
Ich arbeite an dem Plakat für Emilies Workshop und habe am Nachmittag erneut ein Treffen vereinbart, diesmal mit den „Pastourelles de Brive“, eine Gruppe, die sich regionale Musik und Tanz auf ihre Fahnen geschrieben hat. Mit ihnen will ich vielleicht einen Intensiv-Workshop in Angriff nehmen, ein Wochenende oder sogar eine Woche, bei dem eine Gruppe mal in die örtliche Kultur reinschnuppern kann. Auf jeden Fall ist ein Konzert, eine Präsentation für meine internationale Musikergruppe 2006 vorgesehen ^^. Es geht vorwärts.
Freitag
Ich habe total verschlafen und erscheine erst gegen elf Uhr im Büro… *dumdidum* Ist aber nicht schlimm, Pascale hat nichts gesagt. So war der Tag auch nur halb so lang und die Wartezeit, bis ich endlich den neuen Harry Potter im Kino sehen sollte, wesentlich erträglicher. Ich habe mich nämlich im Datum getäuscht und war letzte Woche nicht im Kino, weil der Film noch gar nicht lief. Aber diesen Freitag sollte es so weit sein! Die 10.00 Uhr-Vorstellung! Ich fieberte ihr entgegen. Aber zunächst Abendessen bei Sonia, sie hat gekocht (Kartoffelgratin). Es ist immer wieder eine Freude, Zeit mit meiner kleinen Schwester zu verbringen, wir verstehen uns unglaublich gut! Das Warten fiel so auch viel leichter! Insgesamt waren wir zu acht in dem Film und ich bin wirklich abgedriftet, habe mich in eine „zauberhafte“ Welt entführen lassen und für drei Stunden die Welt um mich vergessen… *seufz* Es ist immer wieder herrlich! Nochmal! Im Vergleich zu den anderen Folgen war dieser Film sehr dunkel, voll unglücklicher Liebe und Tod. Aber wie habe ich den Film genossen! Wann kommt der nächste?
Samstag
Es ist Téléthon, eine Spendenaktion, die 30 Stunden dauert. Überall im ganzen Land finden tausende Aktionen statt, das Fernsehen sendet auf TF2 eine Sondersendung über den gesamten Zeitraum, ähnlich wie Red Nose Day nur größer! Es geht darum, Geld für die Forschung zusammen zu kriegen. Da bin ich doch mit vollem Herzen dabei! Zunächst (nach einem grasse matinée = ausgedehnten Morgen) begebe ich mich zum Zentrum, zu einem Stand nahe der Kirche. Julie, als Repräsentantin des Conseils municipal de Jeunes (ein politisches Forum für die Jugendlichen des Landkreises), verkauft dort Rosen. Das eingenommene Geld ist für den Téléthon bestimmt. Den Nachmittag verbringe ich mit JP im Boulodrome, wo für jeden, der an einem Pétanque-Tunier teilnimmt, ein Euro gespendet wird. Bin ich doch dabei! Gut, ich war nicht in der Wertung, aber ein Spiel habe ich auch gewonnen, ich, als blutige Anfängerin! War wirklich eine super abwechslungsreiche Woche, aber nochmal so viel auf einmal - das halte ich vermutlich nicht aus. Dummerweise ist nächste Woche internationale Jugendwoche und ich habe schon wieder zig Termine… Nicht zu ändern. Mir bleibt ja der Sonntag zum Erholen!
A plus, Bianca J.