Teilzeitreisen: Halbe Tage, ganze Enttäuschungen
Eigentlich war alles schön geplant: Johannson hatte diesmal vor, Hanni York und dessen berühmte Kathedrale zu zeigen. Doch dann fand er zu seinem Entsetzen eine völlig übernächtigte Hanni vor, die von ihren Arbeitgebern wegen familieninterner Treueprobleme um eine ruhige Nacht beraubt worden war.
Meine Versuchstätigkeit als Touristenführer ging in die dritte Runde: Es war Samstag und ich wollte Hanni York zeigen. Aber diesmal stand der Tag von Anfang an unter keinem guten Stern und ist dann auch ziemlich daneben gegangen. Dabei war bis zum Reiseantritt meine einzige Sorge das Wetter. Denn wie ich bei meinem letzten Besuch feststellte, sieht die Stadt unter Wolken vollkommen anders aus als in Sonnenschein. Noch am Freitagabend rief mich Hanni an um zu fragen, ob ich vielleicht etwas früher am Bahnhof sein könnte. Zu dem Zeitpunkt machte mir das keine großen Gedanken.
Erste Schatten
In professionellster Improvisation und Kombination der lokalen Busdienste stand ich tatsächlich kurz vor neun schon auf Durham Station, ohne eine Hanni in Sicht. Was mich wunderte, da ich wusste, dass ihre Linie früher als meine in der Stadt eingetroffen war. Aber an diesem Tag machten mir Verspätungen keine Sorgen, da wir mit unseren Tickets nach Belieben einen der vielen Züge nach York wählen konnten.
Kaum drehe ich meinen Rücken zum Bahnhofsimbiss (sogar die nennen sich inzwischen „Puccino“ und verkaufen Lattes) sitzt sie auf einmal da. Irgendwie ziemlich still und müde... Aber das ist morgens auch nichts Besonderes mit ihr, bei ihren Arbeitszeiten. Im Zug dann keine Veränderung, sofort schläft sie ein. Da muss ich sie dann doch fragen, wie lang sie die letzte Nacht in einem Bett verbracht hat. Antwort: Gar nicht.
Das ganze Ausmaß
Daraufhin die Geschichte die ich bis jetzt kaum glauben kann. Ich kenne ja ihre Gastfamilie ein wenig, mag sie halbwegs, auch wenn ich ihnen nicht besonders weit vertrauen würde. Für meine Begriffe behandeln sie Hanni nicht wirklich gut, lassen sie ewig arbeiten und zahlen einen Witz von einem Lohn.
Ich erinnere mich: einmal fand ich an ihrem Kühlschrank eins dieser Magnetbilder zum Anheften, dieses mit einem Liebesgedicht „Du bist wie...“ mit Rosen und Teddybären im Hintergrund. Hanni konnte gar nicht verstehen, wieso es so etwas für mich fast unmöglich macht, Leute ernst zu nehmen, ist doch so schön...
Wie immer hab ich recht behalten, denn vor einigen Tagen kam heraus das der Mann im Haus es mit der Treue (mal wieder) nicht so ganz ernst nimmt. Die Liebe seines Lebens zog daraufhin (mal wieder) für einige Tage aus, die Kinder wurden wer weiß wohin gesteckt. Soweit so wenig außergewöhnlich.
Wo ich meinen Ohren nicht traute war die Stelle, wo Hanni gefragt wurde, ob sie für eine Nacht nicht das Haus verlassen könne, es sei zwar spät, aber bitte sofort. Das mit zwanzig Pfund in der Tasche, die bis Mitte August reichen sollen, weil ihr der letzte Monatslohn immer noch nicht gezahlt wurde. Und was macht Hanni? Verbringt die ganze Nacht in Durham, bis in den Morgen. Jetzt wird mir klar, weshalb sie fragte, ob wir nicht früher los könnten. Soviel zu „Du gehörst zur Familie“.
Wieso macht sie das mit? Ich bin ein geduldiger Mensch, der Vernunft von anderen seit langem erst gar nicht mehr erwartet, und sogar ich wäre vor Monaten verschwunden. Vertrag hin oder her, sie halten sich ja auch nicht dran. Aber Hanni ist ihre selten gezeigte Dankbarkeit und Jordi genug. Zu ehrlich. Warum hat sie nicht ihre Bekannten in Peterlee nach einem Bett gefragt? Warum hat sie nicht mich angerufen? Zu stolz, schätze ich mal.
Wracks am Fluss
Und da sitzt sie nun. Es ist eine Schande, sie so zu sehen, todmüde und unglücklich. Nicht einmal hier bekommt sie Ruhe. Die Leute im Abteil kreischen und lachen, singen Geburtstagslieder, trinken billiges Dosenbier, schreien Abschiedsgrüsse gegen die schalldichten Fenster zu ihren Freunden auf dem Bahnhof; Babys weinen, während Hanni in einen erschöpften Schlaf fällt. „Männer sind alle Schweine“, meint sie noch, und ich mache mir erst gar nicht die Mühe, etwas zu erwidern.
In York dann führe ich sie durch einige Gärten Richtung Zentrum, immer den zwei großen Türmen des Münsters nach. Aber Hanni braucht erst einmal Essen, denn natürlich hat sie auch kein Frühstück gehabt. Mit einem wertlosen Sandwich und einer Packung Zucker-in-Gebäckform bewaffnet will ich sie am Fluss entlang zu einem Park führen, aber sie lässt sich einfach auf den gepflasterten Fußgängerweg fallen. Ich verstehe sie einfach nicht, wieso bleibt sie bei diesen Leuten? Die ihr nicht mal ihr lächerliches Gehalt zahlen, obwohl sie drei Autos haben? Aber mit Hanni kann man in diesen Dingen ja nicht diskutieren. Und ohne Geld gibt es auch keine Hoffnung, dass sie auf irgendwelche weiteren Ausflüge mit kommt. Keine.
Der Weltenmarkt der Hungerhilfe
Derweil nun auch meine Laune mit der Sonne um die Wette verschwindet, schleppe ich sie gleich wieder ins nächste Café ab, denn Hanni braucht Koffein. Nach dem üblichen Ich-bezahl-meinen-Kaffee-alleine-Geplänkel beschließe ich sie auf direktem Weg zur Kathedrale zu bringen, bevor sie mir vollends zusammenbricht. Auf dem Weg ist eine Installation in einer Kirche zu sehen, aber dafür ist sie schon längst nicht mehr aufnahmefähig.
Erst auf dem Markt durchbricht einiges die Mauer zu ihrem Bewusstsein. Während ich endlich wieder einige Schecks einzahle, findet sie einen Informationsstand über Alkohol bedingte Verkehrsunfälle. Unter einem Handtuch verborgen sind sehr graphische Bilder von Opfern. Sie schluckt, ich grinse. Einige Meter weiter ist ein internationaler Markt, Stände mit Essen und Produkten aus der ganzen Welt. Einige Gemüserollen von irgendwoher ganz weit weg werden mein Mittag. Und dann ist da noch dieser tolle Stand mit schweizerischem Gebäck; zehn Zimtschnecken werden der Nachtisch.
Ach ja, die Deutschen sind natürlich auch anwesend, mit einer großen Karte im Hintergrund, auf der ich Hanni mal zeigen kann, wo genau Lübeck ist. Außerdem ist da eine Truppe auf einer Bühne und spielt...Musik. Woher auch immer sie kommen mag. Klingt wie eine Fusion von Karibik, Afrika, Südamerika und Asien.
Der Anfang vom Ende
Aber Hanni ist kaum zu begeistern, außer vom indischen Stand und einigen Klamottenläden. Gegen Mittag stehen wir wirklich vor dem riesigen Münster, laufen eine Runde rum und dann führe ich uns hinein zur Kasse. Bis mir Hanni in der Schlange sagt, dass sie nicht rein will. Zu müde. Ich kann es kaum glauben. Wozu fährt man nach York, wenn man sich nicht die Kirche ansieht? Sinnlos.
Alles Überreden hilft nichts, sie kann nicht. Alles, was sie will, ist ein Park, wo sie sich hinlegen kann. Gut, hinter der Kirche ist ja gleich einer. Vorher ist sie dann doch noch wach genug, in ein Geschäft für Krempel zu gehen und ich hole mir was Warmes zu trinken und gebe den Mädchen mit den Violinen ein Pfund.
Stimmungswechsel
Bevor wir zum Münstergarten gehen können beschließt Hanni aber, dass sie nur noch nach Hause will. Vermutlich, um dort abends gefragt zu werden, ob sie nicht eventuell etwas arbeiten könnte. Was soll ich machen, wir müssen zurück zum Bahnhof. Zum Glück liegt auf dem Weg dorthin noch der Stadtpark, wo wir einige Zeit bleiben, aber dann hält sie nichts mehr. Und so muss ich zum ersten Mal einen Trip in der Mitte abbrechen.
Gerade auf dem Weg zum Bahnhof kommt die Sonne hervor. Ich weiß nicht, was sie mit Hanni macht, aber in der Bahn wird sie auf einmal ganz munter. Wieso nicht einfach für einige Zeit in Darlington aussteigen und sich die Stadt angucken? Dumme Frage, weil es in Darlington nichts zu sehen gibt. Aber das ist egal, und so tauschen wir York gegen Darlington. Wo alles schon zu hat und es wie erwartet ohnehin nichts zu sehen gibt. Abgesehen von einem zumachenden Markt, einem kleinen verdreckten Fluss und geschlossenen Geschäftsstrassen.
Hier ist Hanni auf einmal ganz fröhlich. Wer das versteht schreibe mir bitte, wieso. Erkläre mir einer dieses komische Mädchen...
Auf dem Weg zurück bemerken wir Polizisten am Bahnhofseingang. In Darlington. Wer, um Himmels Willen, könnte ernsthaft darüber nachdenken, Darlington Station zu sprengen? Und wenn, wer wäre ernsthaft böse darüber? Wieso kommen eigentlich niemals Terroristen nach Easington?
Alles besser auf dem Land
Und so endete dieser Tag ganz unglamourös irgendwann nachmittags, ich weiß gar nicht mehr wann. Ich hab Hanni noch bis Wheatley Hill begleitet und mich mit einer Zeitung in ein Feld gelegt bis mein eigener Bus kam. Leider konnte der mich nur bis zum Village bringen und ich musste den Weg zur Colliery laufen. Was ich ziemlich langsam und missmutig gemacht habe, mit einem kleinen Umweg zur örtlichen Pferdekoppel, wo grad keine Pferde waren, nur ein paar pfeifende Charver-Mädchen (?) und eine einsame Katze. Oh je Sommerabende... Die ärmlichen Kinder aus der Colliery spielen auf den Strassen oder hocken in Trauben auf Bänken und in Bushaltestellen. Sechzehnjährige mit Babys auf dem Schoß, während ihre Brüder oder Freunde auf Heroin Feuer auf unserem Land legen. Bei uns wird doch immer gejammert, dass die Kinder nicht mehr raus auf die Strasse gehen… Endzeitabstimmung
In der halben Stunde Laufen gab es fast mehr Polizeistreifen als normalen Verkehr zu sehen. Als ich den Colliery Hügel hoch laufe, überholt mich ein Polizeiwagen auf dem Weg zum Parkplatz, um dort nach dem Rechten zu sehen. Vor einigen Wochen, als ich nachts von irgendeiner Reise nach Hause kam und allein den Hügel hochstieg, sah ich von unten eine schwarze Figur auf dem Gipfel stehen. Als ich fast oben war, tauchten auf einmal drei weitere Silhouetten auf, blendeten mich mit Taschenlampen und fragten nach meinem Namen. Erst nachdem ich das Licht abschirmte erkannte ich, dass es ich beruhigenderweise um Polizisten handelt. Nicht ganz so beruhigend war, dass sie nach „jemandem“ suchten.
So stehe ich jetzt hier mit meinen Plänen in Scherben. Ohne Geld kann Hanni nirgends mitkommen und ich muss wohl wieder alleine reisen. Ohne Urlaub habe ich noch drei, vielleicht vier Wochenenden. Und was mache ich eigentlich morgen, Sonntag? Zeit, den letzten Akt zu planen.