Solidarität - wer sucht, der findet
Ob wir von klein auf instinktiv spüren, was Solidarität ist? Ich weiß es nicht. Doch ich kann mit Sicherheit sagen: Wer Solidarität sucht, der findet sie. Dies ist die Geschichte meiner persönlichen Suche.
Jeder von uns fängt klein an und vermutlich wird das erste Wort von kaum einem „Solidarität“ gewesen sein. Meines war es jedenfalls nicht. Doch wie kommen wir dazu zu fragen, wie komme ich dazu, mich zu fragen, was Solidarität ist? Und sobald ich es weiß, was bringt es mir, ändert sich etwas?
Ich bin nicht mehr ganz klein, sieben Jahre alt vielleicht. Meine beste Freundin hatte in unbeholfener Kinderschrift ihren ersten Liebesbrief verfasst. Der Brief ging an einen Jungen unserer Klasse, den wir wohl alle anhimmelten. Dieser hatte nichts Besseres zu tun, als die privaten Worte meiner Freundin laut vorzulesen. Ihre Reaktion war wohl folgerichtig, doch hat sie mich in ihrer Intensität nachhaltig beeindruckt. Völlig aufgelöst trat sie den Eimer mit dem Tafelwasser um und stürmte halb schreiend, halb weinend aus der Klasse. Ob ich – wie es sich gehört hätte – für sie eintrat? Ich weiß es nicht mehr. Doch muss ich gestehen: Vermutlich nicht.
Ich erinnere mich an die Begebenheit, als wäre sie gestern gewesen. Doch den wichtigen Teil, der mir verrät, ob ich mich loyal und freundschaftlich verhielt, diesen Teil habe ich vergessen.
Ist das etwa immer noch mein kleiner Anfang? Wer verlangt schon von einer Grundschülerin ahnen zu können, dass man auch durch das Unterlassen jeglicher Beteiligung an einer Situation ebenfalls eine Entscheidung trifft...
Ich wachse und reife, bin schon seit einigen Jahren auf dem Gymnasium.
Wir hatten einen leicht übergewichtigen, doch nicht minder selbstzufriedenen Musiklehrer. Unter uns Schülern befand sich einer, der es während des gesamten Schuljahres nicht an einem einzigen Tag schaffte, pünktlich zum Unterricht zu erscheinen. Ein stiller und schüchterner Junge, vollkommen unauffällig. Nur meinem Musiklehrer ging er wahnsinnig gegen den Strich – irgendwo ja auch zu recht. Doch statt das Problem durch Nachsitzen, Gespräche mit den Eltern, oder zu welchen Mitteln Lehrer so greifen, anzugehen, nutzte er seine eigene Methode. Wenn der Arme zu spät kam, durfte er nicht still in die letzte Reihe schlüpfen. Dem Lehrer fielen allerhand Gemeinheiten ein, mit denen er den Zuspätkommer empfing und vor der ganzen Klasse bloßstellte. Einige meiner Mitschüler lachten, einige schwiegen, andere schauten entsetzt zu. Und ich? Ob ich – wie es sich gehört hätte – für ihn eintrat? Ob ich meinen Lehrer fragte, woher auf aller Welt er sich das Recht nahm, mit einem seiner Schüler so umzuspringen?
Diesmal kann ich ganz klar mit „Nein“ antworten. Wir alle taten nichts. Und das grämt mich noch heute.
Es scheint, als hätte ich immer noch nichts dazugelernt. Zumindest auf der sozialen Ebene. In der Schule, da lernte ich inzwischen so manches. Über Staatenbündnisse, Weltordnungsmodelle, Friedensverträge und welche wichtigen Worte wir sonst zu benutzen wussten. Über Europa. All diese Ideen und Theorien – sie gefielen mir, gaben Raum zum Nachdenken und für Gedankenspiele. Stundenlang konnte ich über politische Themen diskutieren, mit anderen und mit mir selbst. Konnte alle Aspekte beleuchten, Vor- und Nachteile abwiegen, Handlungsoptionen betrachten.
Bin ich etwa nur informiert, nicht aber gebildet? Fehlt mir „das Menschliche“? Ich denke nicht. Ich muss nur mein Wissen mit meinen Erfahrungen vereinen und komme schnell darauf, was „Solidarität“ ist. Und es erfüllt mich ein gutes Gefühl, das mich antreiben kann, mich mit anderen verbunden zu fühlen und im Zweifel für sie einzustehen.
Ich kann umgefallene Tafeleimer aufheben, vergossene Tränen darin auffangen und allen sagen: „Schaut, was wir getan haben. Lasst uns nicht streiten, sondern füreinander eintreten!“
Ich kann meinem Lehrer in die Augen schauen und sagen: „Was Sie hier tun, ist falsch. Als gute Mitschüler werden wir nicht schweigend zuschauen.“
Vielleicht, wenn ihn ich eines Tages wiedersehe, kann ich meinen Klassenkameraden um Verzeihung bitten, dass wir, seine Mitschüler und darunter ich, nicht für ihn eingetreten sind.
Wenn ich es schaffe, mich meinem Nächsten gegenüber solidarisch zu zeigen, dann kann ich mich auch für das einsetzen, worüber ich immer nur theoretisch diskutiert habe. Für die großen Projekte dieser Welt. Für die Staatenbündnisse, für die Hilfsorganisationen und für den Frieden. Ich kann nicht nur einzelnen Menschen, sondern ganzen Nationen die Hand reichen und sagen: „Lasst uns zusammenhalten und zusammen Gutes tun.“
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